Wie Shakespeares Sommernachtstraum zeigt, lässt sich zwischen der Grausamkeit und der Glückseligkeit der Liebe nur auf einem schmalem Grat wandeln. Die Inszenierung von Matthias Kaschig am Deutschen Theater Göttingen zeigt eine Stückauslegung, die weniger traumhaft und zart, dafür aber treffender ist.
Von Birte Müchler
Es ist irgendwie fast skandalös naheliegend, dass der Spielplan des neuen Intendanten Erich Siedler sich dem populärsten Stück des englischen Großmeisters der Komödien widmet. Das Theaterjahr 2014 steht schließlich unter dem Stern des 450. Geburtstags Shakespeares und lässt die internationalen Theaterbretter den alten Stoff neu einatmen.
Dem Publikum tut sich im ersten Bild zunächst ein grauer, roher Bühnenraum auf. Die vier, in einem furchtbar komplexen Geflecht unglücklich verliebten Athener irren ziellos durch den Wald am Rande der Stadt. Ein eleganter Coup ist das anfängliche Lied Underneath the Mango Tree, das die jungen Athener (allesamt neu im Ensemble) vor sich hinträllern und das im Verlauf des Theaterabends immer wieder in den unterschiedlichsten Formen rezipiert wird. Es ist ein Lied aus der wohl populärsten James Bond Verfilmung 007 jagt Dr. No, in der in einer bekannten Szene der Geheimagent, gedanklich in fernen Liebessphären verloren, die schöne Honey Ryder dabei beobachtet, wie sie lasziv aus dem Ozean steigt. Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Mond sowohl hier als auch im Stück eine große, immer wiederkehrende Rolle spielt:
Underneath the mango tree
Me honey and me can watch for the moon
Underneath the mango tree
Me honey and me make boolooloop soonUnderneath the moonlit sky
Me honey and I can sit hand in hand
Underneath the moonlit sky
Me honey and I can make fairyland
Auch über den verliebt singenden Athenern scheint der Mond. Die Nacht verdrängt langsam den Tag und Gefühle und Leidenschaften intensivieren sich um ein Vielfaches. Und es ist zum Haareraufen: Demetrios liebt Hermia, die ihn nach ihres Vaters Wunsch heiraten soll. Hermia aber liebt Lysander und denkt nur daran, mit ihm endlich durchzubrennen. Die Vierte im Bunde, Helena, ist unglücklich und herzzerreißend elend in Demetrios verliebt. Der Legende nach verfasste Shakespeare das Stück zur Erheiterung einer Hochzeitsgesellschaft, doch scheint die Geschichte eher tragischen Mustern zu folgen. Im Wesen ist Helena eine zutiefst gescheiterte Figur, ein Sinnbild, für etwas, das sich so unzählig häufig in unserer Welt ereignet. Helena gibt sich hoffnungslos der unerwiderten, zerstörerischen Liebe hin, für die jeder gewillt ist, sich selbst aufzugeben. Auch die anderen Figuren sind vollkommen vereinnahmt: Geplagt von den beängstigenden Gefühlen benehmen sie sich unzivilisiert, allein gelassen mit dem Ich, mit all den fürchterlichen Emotionen – immer wieder wechseln die Partnerkonstellationen im plötzlichen Umschwung zwischen Begehren und Abscheu.
Im Liebesrausch: Ensemblemitglieder aus »Ein Sommernachtstraum«
Doch auf der Bühne des DT ist plötzlich alles ein kleiner, unbedeutender Scherz, Slapstick und Komik. Helena ist ein nerviges, trotziges Schulmädchen, das allerdings ganz hervorragend von Rahel Weiß gespielt wird. Wahrscheinlich hatte Shakespeare nie den Anspruch, den vier Athenern eine tiefere Komplexität anzudichten. Ihr Schicksal ist kein Einzelschicksal. Sie alle sind bloße Träger von menschlichen Gefühlen, um die Liebe in all ihren absurden und ironischen Facetten nachzuzeichnen. Teils ernsthaft und anrührend, dann überzogen in Zeichentrickmanier toben die Wildgewordenen durch den Wald. Das ist amüsant, funktioniert, und lässt das Publikum vielfach laut auflachen. Doch ein wirklich stimmiges Bild mit den restlichen Inszenierungsideen will sich nicht so ganz einrichten.
Alles bloß ein TraumgewebeEinen merkwürdig eindringlichen Kontrast zur weltlichen Ebene bildet der Feenwald, in dem ein ebenso großes Durcheinander herrscht. Was sich dem Göttinger Publikum nun auf der Hauptbühne des Theaters eröffnet, ist keine filigrane Feenwelt, kein grüner, dicht bewachsener Traumort. Es ist viel eher ein düsterer Albtraum, der sich auftut in Form eines grauen wolkigen, beinahe staubartigen Burggebildes, das aus sich selbst heraus zu glühen scheint. Das unheimliche Bühnenbild, dieses Traumgewebe, entstammt der Hand von Michael Böhler. Es schafft eine Atmosphäre, die einen endlich eintauchen lässt in ein Stück, das eigentlich gar nicht so klamaukig und spielerisch leicht ist, wie es anfangs verlocken ließ. Hier, in dieser Zwischenwelt zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen, zwischen Verwirrung und Verzweiflung bewegen sich die Elfen geisterhaft geräuschlos und ohne Sprache. Sie zeigen ihre nackten Oberkörper, sind entstellt durch grausige Riesenkopfmasken und gekleidet in kurzen Glitzerhosen (insgesamt ein überzeugendes Kostümkonzept: Stefanie Klie).
Kein freundlicher Ort: der Zauberwald als düsterer Albtraum
Der Feenkönig Oberon und seine Gemahlin Titania streiten heftig miteinander. Titania hat einen Menschenknaben in ihrem Gefolge aufgenommen, nach dem Oberon nun verlangt. Es ist beinahe ein politisches Statement, dass Kaschig hier einen Geschlechterrollentausch performen lässt. Karl Miller gibt eine grandios glamouröse Titania im Glitzerkleid. Geschickt und pointiert streut er seine Auftritte, jeder Schritt, jede Geste sitzt. Gaby Dey übernimmt den Feenkönig Oberon und steuert ihre Figur weich, feminin und zurückgenommen durch das Stück. Es ist ein eher blasses Spiel im Kontrast zu der Königin und will nicht so ganz in das Figurengefüge hineinpassen. Als Strippenzieher, als Marionettenspieler, als Liebesgott, der die Zaubertränke unter seiner eigenen Frau und den Athenern aufgrund von Mitgefühl, aber auch nach eigener Willkür verteilt, passt dieser Oberon eher weniger und fällt hinter den restlichen exzentrischen Figuren zurück. Auch hinter dem Elf Puck (wunderbar originell: Benedikt Kauf), der nicht närrisch, nicht in blindem Gehorsam zum König seinem Treiben nachgeht, sondern viel eher spitzbübisch und zynisch, immer leicht genervt, aber immer auch mit wollüstiger Schadenfreude seinen Schabernack treibt. Als rechte Hand des Königs erscheint er beinahe größer und mächtiger als dieser selbst.
Alles bloß ein SpielDann gibt es da noch eine Gruppe von Handwerkern, die sich ungelenk durch den Wald kämpft. Alle eingekleidet in bunt zusammengewürfelter Alltagskleidung, alle herrlich unbeholfen. Sie proben das Stück Pyramus und Thisbe nach Ovid, denn sie wollen es auf der Hochzeitsfeier von Theseus und Hippolyta aufführen. Zettel, der einzige unter ihnen mit ein wenig, dafür aber umso pathetischerem Talent (sorgt für viel Gelächter: Gerd Zinck), wird auf Oberons Geheiß von Puck in einen Esel verwandelt, um dann unter Einsatz eines Zaubertrankes der Gespiele von Titania zu werden. Am Ende kann sich all das, für die Zuschauer amüsante, für die Figuren jedoch quälende, Durcheinander auflösen. Am Ende bleibt die Frage: War das alles wirklich nur ein Traum?
Das Spektrum der LiebeViele kluge Köpfe haben Shakespeares Liebesstreich kommentiert, etliche Male wurde das Stück rezipiert. Zumeist sei der Zauberwald ein Ort des menschlichen Unterbewusstseins, in dem sich die menschlichen Gefühle bis ins Intensivste steigern. Auch bleibt es häufig bei der Auslegung des großen Rahmenzusammenhangs, dass die Komödie ein großes, pompöses Festspiel sei, das vor allem unterhalten soll. Doch was kann eine zeitgenössische Inszenierung dem noch entnehmen? Kaschig beantwortet die Frage nur teilweise. Viel mehr lässt er den Spielraum für Interpretationen offen und nimmt das Stück, dem noch immer eine ungebrochene Aufmerksamkeit zuteil wird, aus eigener Perspektive auf. Seine Auslegung lebt die weite Spannweite unseres Liebeslebens nach und stilisiert auf lustige und auch anrührende Weise die vielen facettenreichen Arten der Liebe: Junge, blinde Liebe steht hier neben der reifen, nachhaltigen Liebe, wilde Emotionen neben stillen Gefühlen. Kaschigs Konzept ist vielleicht kein Offenbarung, aber es beschert in jedem Fall einen unterhaltsamen und amüsanten Theaterabend – und auch dafür ist Theater schließlich da.