Die Zeitung befindet sich im Umbruch. Aus der Printperspektive macht Lothar Müller in seinem öffentlichen Vortrag einige »Randbemerkungen zur Literaturkritik«. Als Göttingens erster Gastdozent für Literaturkritik seit acht Jahren vermittelt er pragmatische Zuversicht.
Von Tanita Kraaz und Hanna Sellheim
Wenn die Schlagworte Umbruch, Digitalisierung und Print fallen, kann man sich fast sicher sein, dass Requiem oder Lobeshymne folgen. Lothar Müller, der sich selbst in einer Umbruchsgeneration von analog zu digital verortet, macht solche Ambivalenzen sicht- und fruchtbar für seinen Göttinger Literaturkritikvortrag. Das Nebeneinander von Print- und Online-Medien verändert auch die Bedingungen für das literaturkritische Arbeiten. Das lädt laut Müller zum Überdenken ein, zum Reflektieren von journalistischen Routinen. »Die berühmte Deadline« etwa, wie Lothar Müller sie betitelt, ist charakteristisch für diese Art von Begutachtung. Berühmt ist die Frist als unliebsame Zeitbegrenzung. Die Assoziation mit Panik vor dem Abgabetermin scheint unumgänglich.
Müller deutet die Implikation der Frist anders: Sie sei produktiv. Das habe schon Alfred Kerr mit seinen Theaterkritiken unter Beweis gestellt. Die gab es stets am Morgen nach der Premiere in der Zeitung zu lesen und sie wurden trotzdem ausgezeichnet – oder gerade deshalb. Lothar Müller erklärt die Vorzüge der strikten Deadline nüchtern: Denn selbstverständlich führt die Verknappung der Produktionszeit zu Aufregung. Da liegt der Zusammenhang zwischen Adrenalin und Produktivität nahe. – Dem Online-Betrieb ist der Begriff der Deadline nicht unbekannt, aber sowohl die Möglichkeit unmittelbar zu publizieren, als auch die Möglichkeit, die Frist zu verschieben, ohne die Morgenausgabe zu verpassen, deuten das Ende des klassischen Redaktionsschlusses an. Die triviale Beobachtung des Medienwandels setzt Müller in Zusammenhang mit den Strukturen: Die Digitalisierung steigere die »Elastizität« des Journalismus, hier im Hinblick auf die Zeit.
Die Zeitung als MosaikDer Horizont des Printmediums eröffnet eine zweite maßgebliche Beschränkung: die des Raums. Folgerichtig wählt Müller als Vortragstitel die faits divers. Diese Meldungen von nur wenigen Zeilen zu verschiedenen Themen waren eine Form des Journalismus, die sich im 19. Jahrhundert entwickelte. Besonders Balzac war der Ansicht, es sei möglich, aus diesen kurzen Texten ganze Romane zu extrahieren. Laut Müller verkörpern die faits divers das Wesen der Zeitung selbst: ihre Mosaikhaftigkeit. Indem Müller sich dieser Form bedient, setzt er das Programm seiner Ausführungen. Ein sinniges Gesamtbild ergibt sich aus einzelnen Fundstücken und Beobachtungen, die erst ungeordnet wirken.
Das macht Müllers Vortrag hoch referenziell, ohne dass er sich im reinen name-dropping verliert. Seine Verweise nutzt er produktiv. Ein Beispiel dafür ist ein Zitat von Lessing:
Man ist nicht Herr von seinen Empfindungen; aber man ist Herr, was man empfindet, zu sagen.
Die Aussage könnte zum austauschbaren Allgemeinplatz verkommen, definiert hier aber ein Literaturkritik-Konzept. Denn schon Lessing betonte, dass Geschmacksurteile reflektiert werden müssen, um sich verantwortlich äußern zu können: »Man kann sich bei diesem Mißfallen entweder auf die bloße Empfindung berufen, oder seine Empfindung mit Gründen unterstützen.« Dies, so Müller, ermögliche die Literaturkritik erst. Ein Artefakt entstehe, die Diskursivierung beginne. Die Literaturkritik überführe die Rivalität von Geschmacksurteilen in die öffentliche Debatte. Das funktioniere nur im Ensemble. Der Rückschluss folgt lapidar: Es könne keine übergeordnete Autorität, keinen »Literaturpapst« geben.
Autoritätsanspruch – ein Alleinstellungsmerkmal des Print?Die Machtstrukturen sind anders gelagert. Das Proklamieren harter Zäsuren oder gar eines Mediendeterminismus’ liegen Lothar Müller zwar fern, trotzdem klingt in seinem Vortrag ein Plädoyer für die anhaltende Signifikanz des Print an. Als ein Gegengewicht gegen die ewig gleiche Schwarzmalerei für die Zukunft der gedruckten Zeitung ist das spannend und doch könnten die Chancen des Online-Betriebs hier konsequenter durchdacht werden. Denn die »Fiktion diskursiver Öffentlichkeit« ist schließlich in beiden präsent und gerade in den sozialen Medien besonders produktiv. Doch wenn Müller auf
Eine ähnliche Euphorie über den ersten gesendeten Tweet könnte unverhältnismäßig wirken. Die potenzielle Publizität, die früher dem Print vorbehalten war, privilegiert die Information nicht mehr. Müller erklärt das anhand einer Ordnung, die aus Kontinuitäten schöpft. Er zieht eine Parallele zwischen der bürgerlichen Briefkultur des 19. Jahrhunderts und den heutigen sozialen Medien, die beide ständige Replikation ermöglichen, wenn auch heute in beschleunigter Form. Buchblogger, Booktube und Bookstagram – genau wie dem Brief ist solchen Medien keine klassische Konsekrationsinstanz vorgelagert.
Die Überlegung wirkt erstmal sinnfällig, wenn es nicht um die Kritik geht: Auch in Zeiten von Selfpublishing stapeln sich unangefragt eingesandte Manuskripte in den Büros der Verlagslektorate. Junge Autor*innen streben wie selbstverständlich danach, einen Zugang zur klassischen Öffentlichkeit zu finden. Doch die Spekulation darüber, ob die Lektorate diese Rolle beibehalten werden, bleibt möglich. Das Vertrauen in die etablierten Gatekeeper bröckelt zusehends und mit ihm auch der Wahrheitsanspruch, der der Presse zugeschrieben wird. Die Reichweite der von Müller aufgestellten Thesen lässt sich also gerade in Hinblick auf Fake News und Fragen zur verantwortungsbewussten Berichterstattung in Zeiten des Wettbewerbs um Klicks sicherlich noch weiter erkunden.
Müller problematisiert das vielleicht auch deshalb nicht, weil die Literaturkritik als genuin urteilender Bereich des Journalismus nicht der Neutralität verpflichtet ist, sondern sich durch die Vielstimmigkeit, die »Fiktion des Allgemeinen«, legitimiert. Er lässt sich nicht groß darauf ein, diese Expert*innenkommunikation weiter zu rechtfertigen. Er bestimmt lieber eine Überlebensstrategie. Unter dem Motto »Ausweitung der Kampfzone«, müsse die Literaturkritik daran arbeiten, unersetzbar zu bleiben. Das könne bedeuten, von der KNV-Insolvenz zu berichten oder Krimis lesen zu lernen. Wichtig scheint vor allem das Selbstbewusstsein in Bezug auf die eigene Expertise zu sein. Es stehe in der Tradition der Literaturkritik, sich Themen auch unfreiwillig erarbeiten zu müssen. Auftragsarbeiten wirken dabei wie eine Feuerprobe für große Autoren. Wobei der Dozent auf das Gendern verzichtet, was kaum auffällig wäre, würde er nicht später zur Vorsicht vor wissenssoziologischen Erklärungsversuchen anmahnen.
Fragwürdige Warnung vor »Großkategorien«Denn problematisch wird Müllers Vortrag in dem Rahmen, in den er sich setzt: Schließlich ist die Anna-Vandenhoeck-Gastdozentur ganz bewusst nach einer Frau benannt, die sich entgegen den Konventionen ihrer Zeit in einem männerdominierten Gewerbe behauptete. Die pflichtschuldigen kurzen Bemerkungen Heinrich Deterings in seiner Laudatio auf Lothar Müller zur Bedeutung Vandenhoecks für die Verlagswelt und die Literaturwissenschaft lassen die Frage unbeantwortet, wieso bei einer solchen Veranstaltung dann doch männliche Stimmen die Bühne beherrschen. Besonders vor diesem Hintergrund haben Müllers Warnungen vor der »Großkategorie« Geschlecht, mit der oft leichtfertig argumentiert werde, einen seltsamen Beigeschmack. Schließlich sollte man die Bedeutung der Kategorie auch heute für die Produktion und Rezeption von Literatur genauso wie von Literaturkritik nicht vorschnell ignorieren.
Das wird gerade durch das von Müller angeführte »Stella«-Beispiel bestärkt, bei dem die geschlechtliche Komponente wesentlich zum Unbehagen beitrug, das der Roman in den Feuilletons auslöste. Doch gerade die lässt Müller außen vor, wenn er das Beispiel nur in Bezug auf die von ihm angeführte zweite Großkategorie der »Generation« bezieht. Sicher stimmt es, dass die »wissenssoziologische« Perspektive, die die Entstehungsbedingungen von Literatur und Literaturkritik in den Blick nimmt, nicht alles erklären kann, doch lässt die Definition von literarischer Kritik als nur öffentlichem Streit über sachlich begründete Geschmacksurteile wesentliche gesellschaftliche Zusammenhänge und Hierarchien außer Acht.
Zuversicht ohne Bebilderung oder sonstigen SchnickschnackNicht nur der fensterlose ZHG-Hörsaal mit 60er-Jahre-Charme versetzt die ca. 100 Anwesenden an diesem Abend in eine andere Zeit zurück: So analog wie das Thema geriert sich auch der Vortrag, trägt sich eine Stunde lang nur über das gesprochene Wort, ohne PowerPoint, ohne Bebilderung oder sonstigen Schnickschnack. Als Erholungspause vom alltäglichen Chaos der digitalisierten Welt mit ihren schreienden Schlagzeilen und blinkenden Anzeigen ist das angenehm, doch ein wenig mehr Frische, mehr Modernität, mehr Auflockerung könnten das Format in Zukunft zugänglicher und anschlussfähiger für Studierende machen.
Müllers Vortrag kondensiert theoretische Überlegungen zur Praxis der Literaturkritik. Den Rahmen der Gastdozentur angemessen nutzend eröffnet er so eine wissenschaftliche Perspektive auf den journalistischen Umgang mit Literatur. Sein Fazit bleibt zuversichtlich. Er bekennt sich zu einer Literaturkritik, die sich ihres Ursprungs im Print und ihres »Erbes der Fiktion des Allgemeinen« bewusst bleibt, ohne sich neuen Möglichkeiten zu verschließen. Für das studentische Publikum ist das sicherlich eine frohe Botschaft, die Gutes für die eigene Zukunft als ausgebildete Literaturwissenschaftler*innen verheißt.