Uwe Tellkamp isst keine Vorspeise zu Kalbsgeschnetzeltem, Kommerz hat nicht die Hosen an und Literaturliebhaber sind oft grauhaarig, aber nicht immer. Das alles und noch mehr erzählt Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg, im Interview. Außerdem: Warum Lesungen so typisch deutsch sind.
Von Anna Kleimann
Anna Kleimann: Herr Dr. Moritz, welche Schwerpunkte setzen Sie im Programm des Literaturhauses?
Rainer Moritz: Wir haben von Anfang an eine nationale und internationale Ausrichtung gehabt. Es geht uns darum, das abzubilden, was die Gegenwartsliteratur bietet, nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch nach Möglichkeit ausländische Literatur, die auf Deutsch verlegt wird. Außerdem veranstalten wir literarhistorische Abende, um an Autoren zu erinnern, sei es mit oder ohne Jubiläum. Wir versuchen, eine Mischung zu bieten aus möglichst vielen Genres, aus vielen »Schwierigkeitsgraden« der Literatur. Es muss sowohl die experimentelle, schwer verkäufliche Literatur ihren Platz haben, als auch durchaus intelligente Kriminal- oder Unterhaltungsromane.
A.K.: Jedes Literaturhaus hat ja ein individuelles Publikum. Das hat sicherlich mit dem Standort zu tun, aber auch mit dem Konzept des Hauses. Wie sieht ihr Publikum am Alsterufer aus? Und sind die Gäste, die kommen, auch die Gäste, die Sie ansprechen wollen?
R.M.: Wir versuchen, ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Die Befürchtung ist immer ein bisschen, dass man ein zu enges Programm macht und quasi sein Publikum mit Handschlag begrüßen kann. Das halte ich in einer Großstadt wie Hamburg nicht für den richtigen Weg. Wenn sie auch junges Publikum haben wollen, müssen sie auch mal junge Autoren einladen, Poetry-Slam-Abende veranstalten und sozusagen »Entertainment-Shows« in der Literatur machen. Das Hamburger Literaturhaus – eine Villa aus dem 19. Jahrhundert – ist ja nun auch kein Szene-Ort im engeren Sinne. Es geht nur, indem sie Themen anbieten, bei denen die Leute einfach gar nicht anders können, als ins Literaturhaus zu gehen. Dass ein literaturinteressiertes Publikum nicht unbedingt das jüngste Publikum ist, das ist normal. Das, was man früher Bildungsbürgertum genannt hat, spielt eben auch eine wichtige Rolle in Hamburg, aber man muss versuchen, sich als Ort so offen zu präsentieren, dass es nicht verstaubt wirkt und man sich nicht den grauen Haaren seiner Besucher anpasst.
A.K.: Sie schreiben selbst in ihrem Beitrag Ein Forum für die Literatur, dass ausführliche, öffentliche Lesungen für deutsche Autoren eine Selbstverständlichkeit sind. In Frankreich oder im angloamerikanischen Raum sei diese Praxis eher eine Seltenheit. Und tatsächlich wurde ja auch der Prototyp der Literaturhäuser, das Literarische Colloquium, schon 1963 in Berlin gegründet. Das Hamburger Literaturhaus gibt es seit 1989. Wieso nimmt ausgerechnet Deutschland diese Vorreiterrolle ein?
R.M.: Das ist eine sehr gute Frage. Es scheint eine sehr typische deutsche Tradition zu sein. Ob das mit dieser Dichter und Denker-Tradition oder der Vorstellung des Geniekults zu tun hat, weiß ich gar nicht so genau, aber es ist in der Tat so, dass auch oft englische Autoren neidisch sind auf das, was sich in deutschen Literaturhäusern bietet. Wir hatten mal A.L. Kennedy, die schottische Autorin, vor ein, zwei Jahren im Haus, die immer ganz entzückt ist, weil sie so ein interessiertes, neugieriges Publikum zu Hause in Schottland gar nicht hat. Die Geduld, sich einzulassen auf eine längere Textlesung, ist eine sehr sehr deutsche Tradition, die Sie andernorts in der Tat kaum haben.
A.K.: Der Literaturhausbetrieb ist ja leider nicht frei von ökonomischen Gesetzen. Wie erfolgreich schaffen Sie es, die richtige Portion Kommerz mit der richtigen Portion »randständiger Hochliteratur« zu mischen?
R.M.: Also, Kommerz spielt nicht die entscheidende Rolle. Natürlich hab auch ich gerne Lesungen, die ausverkauft sind, wo viele Menschen kommen. Es ist immer etwas trostlos, wenn sie 15 Leute haben, von denen drei noch zum Haus, vier zum Autor gehören, und die restlichen sind zufällig vorbeigekommen. Aber daran darf sich ein Literaturhaus letztlich nicht messen. Literaturhäuser haben die Funktion, dass sie auch Nicht-Mainstream befördern. Natürlich muss ein Literaturhaus auch darauf achten, dass am Schluss wenigstens eine Null rauskommt. Selbst eine Veranstaltung, die ausverkauft ist, ist nicht unbedingt ein Grad-Messer für ökonomischen Erfolg. Es gibt manchmal Sternstunden, wir hatten im Mai Siri Hustvedt mit ihrem Sommer ohne Männer im Thalia-Theater mit 1000 Besuchern zu Gast. An einem solchen Abend haben sie dann trotz Miete, trotz Honorar, richtig Geld verdient. Das ist aber nicht das Normale, denn, wie gesagt, eigentlich sind alle Lesungen defizitär.
A.K.: Ein Phänomen, das sich seit einigen Jahren entwickelt, ist die »Eventisierung« von Literatur. Seit 2001 gibt es die Literaturfestivals Lit.COLOGNE, das Internationale Literaturfestival Berlin, das LesArt Dortmund und auch noch viele kleinere, wie zum Beispiel das Prosanova. Muss Literatur einfach lauter werden, damit man sie heute noch hört?
R.M.: Nein, das muss sie nicht. Wobei ich nicht unbedingt etwas gegen die »Eventisierung« sagen möchte. Man muss sehr genau unterscheiden, welche Texte, welche Autoren, welche Veranstaltungsformen brauchen. Literatur muss aufpassen, dass sie sich selber nicht das Wasser abgräbt, das heißt, dass sie sich nicht das nimmt, was sie dann doch letztlich ausmacht. Man muss aus Uwe Tellkamps Der Turm kein Event machen. Das ist, altmodisch gesprochen, ein Sprachkunstwerk und lebt vom Text. Wenn sie jetzt versuchen, das in ein dreigängiges Menü mit Musik und Bauchtanz zu packen, dann nehmen sie der Literatur etwas. Ich werde dann immer allergisch, wenn ich von Lesungen an »ungewöhnlichen Orten« lese. Es kommt ja sonst keiner, wenn ich nicht wenigstens noch ein Kalbsgeschnetzeltes oder Seeteufel anbiete. Das ist eine Gradwanderung. Ich bin ein großer Befürworter der klassischen Wasserglaslesung, weil die eine Form von Entschleunigung darstellt, die der Gegenwart gar nicht so schlecht tut.
A.K.: Man könnte meinen, das ist auch etwas, das das Literaturhaus Hamburg versucht: Literatur zum »Erlebnis« zu machen. An der Schwanenwik kann man ja nicht nur Lesungen lauschen, sondern auch ins Literaturhauscafé einkehren, in der Beletage dinieren, die hauseigene Buchhandlung besuchen oder die Fotoportraits auf der »Autorentreppe« anschauen…
R.M.: Ich bin immer ganz glücklich, wenn ich morgens oder am späten Vormittag ins Café komme und sehe, wie sich Autoren dort treffen oder Übersetzer, wie Journalisten mit Rundfunkleuten debattieren. Das Haus muss ein Zentrum sein. Das ist das Ideale, was man, glaube ich, erreichen kann. Die Leute müssen das Gefühl haben, ich bin, wenn ich ins Literaturhaus gehe, an einem literarischen Ort. Dass man dort auch noch einen ordentlichen Kaffee und was zu Essen bekommt, ist, glaube ich, kein Nachteil. Es gibt eine sehr lange Tradition der Weltliteratur, die mit Essen und Trinken verbunden ist, und auch die Kaffeehaus-Literatur.
A.K.: Hat also nichts mit Kalbsschnitzel und Seeteufel zu tun?
R.M.: Nein, also, ich finde das ganz wichtig, dass Sie auch vor der Lesung und nach der Lesung die Möglichkeit haben, einzukehren, darüber nochmal zu sprechen, was Sie gerade gehört haben, sich darüber zu erregen, warum Martin Walser so einen komischen Roman geschrieben hat oder warum der Moderator ein völliger Versager war.
A.K.: Sie schlagen selbst in der Reihe Gemischtes Doppel [Sendereihe des Norddeutschen Rundfunks, Anm. d. Red.] mit Annemarie Stoltenberg eine »Schneise durch den Novitäten-Dschungel« und geben viermal im Jahr mit einer Auswahl von 16 Titeln einen Überblick über Neuerscheinungen. Knapp 100.000 Erstauflagen gibt es in Deutschland pro Jahr. Wie schaffen Sie das bloß?
R.M.: Das entstand eigentlich aus dem Empfinden heraus, dass die literarisch interessierten Menschen sich fragen: Was soll ich denn lesen von diesen schrecklich vielen Neuerscheinungen? Zumal die Leute sich viel weniger am Feuilleton orientieren als noch vor 20 Jahren. Diese Form des »Gemischten Doppels« besteht also aus zwei Menschen, die nicht direkt auf den Mund gefallen sind, die gerne lesen und in kurzweiliger Form ihren persönlichen Ausschnitt der Novitäten präsentieren. Das ist immer nur ein Bruchteil dessen, was erscheint und hängt auch von subjektiven Vorlieben ab.
A.K.: Bei öffentlichen Lesungen verlässt der Autor seine einsame Schreibstube und begegnet seinen Lesern in der Realität. Das heißt, er stellt sich, wie Thomas Wegmann es formuliert hat, »neben sein Werk«. Wie verändert dieser Umstand die Wahrnehmung von Literatur?
R.M.: Ich glaube, es ist in der Tat nicht mehr der konkrete Text. Es ist ein anderes Lesen, als wenn ich mich mit einem dicken Roman zu Hause aufs Sofa setze und dann drei Stunden darin versinke. Man achtet automatisch auf die Intonation, auf die Gestik. Ist der Autor sympathisch? Wirkt er verdruckst? All diese Dinge spielen eine wichtige Rolle. Sie haben hier die Möglichkeit, einen Text durch den Autor kennen zu lernen. Der Text gewinnt manchmal dadurch. Ein Autor kann einen Text besser darbieten, als er in Wirklichkeit ist, wenn er still für sich gelesen wird. Es ist aber auch oft das Gegenteil der Fall, dass ich als Leser mehr davon habe, wenn ich den Autor nicht sehe und höre. Aber gerade dieses Wechselspiel ist sehr interessant, das macht das Besondere einer Lesung aus, dass ich durch ein Naturell, durch einen leibhaftigen Menschen einen Text sehe. Das ist nicht das gleiche, als wenn ich philologisch einen Text analysiere.
A.K.: Herr Moritz, ich danke Ihnen für das Gespräch.
[…] – allerdings nur vor Abonijs Tisch. Muss Literatur also lauter werden, wie EMagazin Litlog fragt? Die O-Töne scheinen eine (vorläufige) Antwort zu geben: Lauter nicht, aber vielleicht […]