Dass in dem Ideal einer Gesellschaft gleicher und glücklicher Menschen zumeist die Realität einer Gemeinschaft gleichgeschalteter und unerfüllter Individuen steckt, zeigt die neue Inszenierung Homo Empathicus, mit dem das DT die neue Spielzeit einleitet.
Von Rashid Ben Dhiab
Etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird in der Wirtschaftswissenschaften das Modell eines nutzenmaximierenden Menschen, des Homo oeconomicus, verwendet, mithilfe dessen menschliche Verhaltensweisen und die daraus resultierenden Gesellschaftsvorgänge beschrieben werden können. Die durch dieses Modell abgebildete Person handelt in ihrer Entscheidungsfindung rein rational und völlig losgelöst von Emotionen. Obwohl dabei gänzlich unterschiedliche Präferenzen zugrunde gelegt werden können, wird der Homo oeconomicus meistens als der ideale Egoist betrachtet, dessen eigener Nutzen stets über dem aller Mitmenschen steht.
Schaut man sich die heutige Gesellschaft an, so scheint er allerdings nicht länger nur ein Modell, sondern bereits in der Realität angekommen zu sein und uns praktisch an jeder Ecke über den Weg zu laufen. Eine Gemeinschaft aus Missgunst und Konkurrenzdenken. Man will sich in die Chefetage buckeln und die Mitbewerber in die Gosse treten. Mehr Geld haben, besser aussehen als andere, das richtige Geschlecht haben – menschlicher Wert wird an vielen Dingen gemessen. Was wäre jedoch, wenn man dem Menschen all diese Kriterien einfach wegnähme? Wie würde seine Gesellschaft dann aussehen?
Mit einem solchen »Was wäre, wenn … ?« startet das Deutsche Theater in Göttingen unter der neuen Intendanz von Erich Sidler in die Spielsaison 2014/15 – mit der Uraufführung der Utopie Homo Empathicus.
Empathisches UtopiaIn dem Stück von Rebekka Kricheldorf leben die Figuren in einer idealen Welt. Wenn man nicht gerade arbeitet oder die Lehrbücher des hoch angesehenen Gesellschaftsreformators Professor Möhringer studiert, widmet man sich der Dichtkunst, dem Tanz oder dem Schauspiel. Um seine Gesundheit muss man sich nicht selbst sorgen, denn in öffentlichen Bedürfnisanstalten werden die Ausscheidungen sogleich analysiert und bei der Essensausgabe wird freundlich darauf hingewiesen, wenn die Ernährung zu ungesund und einseitig ist, und stattdessen ein passenderes Gericht als das bestellte ausgeteilt. Wer eine innere Unausgeglichenheit verspürt, der besucht Doktor Oscho, um sich seine Sorgen ganz einfach »wegsprechen« zu lassen und sein Leben unbeschwert weiterführen zu können.
Ensemblemitglieder aus »Homo Empathicus«. In der Mitte: Emre Aksizoğlu
Inmitten dieser gut geölten Wohlfühlmaschinerie stehen die Figuren untereinander stets in einem Verhältnis tiefster Empathie. Niemand möchte durch sein Verhalten auch nur den Anschein erwecken, die Gefühle eines Mitmenschen verletzen zu wollen. Jede Aussage, die auch nur entfernt als boshaft ausgelegt werden könnte, muss sofort präzisiert werden, um kein falsches Bild entstehen zu lassen. Jeder Mensch wird respektiert, jeder Berufsstand ist hoch angesehen, vom dozierenden Professor bis zum Hygienespezialisierten im öffentlichen WC. Die Welt des Homo Empathicus kennt kaum hierarchische Strukturen, was sich auch in ihrer Sprache niederschlägt.
CleansprechWas in Genderdebatten häufig als utopische Forderung geäußert wird, ist in Homo Empathicus längst Wirklichkeit geworden: Das Geschlecht ist Privatsache und dank Unisexkleidung – einer Art Kimono aus Putzlappen – wie Sprachwandel aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung verschwunden. Statt Mann und Frau gibt es nur noch »das Mensch«. Die Ehe ist einer unverbindlichen »Verpartnerung« gewichen, die jederzeit geschlossen und aufgelöst werden kann und sowohl verschieden- wie gleichgeschlechtlichen Paaren offensteht. Man ist auch weder alt noch jung, sondern ein »Länger-« oder »Kürzerlebendes«. Ebenso wird nicht gestorben, sondern der Dienst als Nahrung kleinerer Lebensformen angetreten.
Von Beginn an beschleicht den Zuschauer die Ahnung, dass an der Idylle des Gezeigten etwas nicht stimmt. Das gesamte Stück findet auf einer in Szene gesetzten Wiese statt, im Hintergrund stets das Hygienespezialisierte Tony vor seiner öffentlichen Bedürfnisanstalt. Das Bühnenbild ist spartanisch, zieht den Zuschauer so jedoch perfekt in die aufgeräumte Sterilität der Welt hinein. Studierende liegen mit Büchern im Gras, ein Sportives tanzt mehrmals fröhlich-lustvoll jauchzend vorbei. Einen Protagonisten gibt es nicht. Die Akteure wechseln mehrmals, stammen aus allen Berufszweigen und sind gleichzeitig vereint in ihrer gegenseitigen, bedingungslosen Fürsorge und ihrem tiefen Respekt. Und doch wirkt etwas daran immer falsch, immer künstlich und einstudiert. Das Studierende Chris verkörpert den erste Riss in der Fassade und enthüllt die dahinter schwelenden Sehnsüchte, die nur allzu menschlich sind.
Verschwindet nicht in der Masse: Rahel Weiss (als Eva) im roten Kleid
Eine Illusion kann noch so schön und perfekt gestaltet sein – am Ende bleibt sie nur ein Scheinbild. Und wenn das hässliche Ding, das sie verdecken sollte, hervorbrechen will, wird sie ihm nicht lange standhalten können. An Chris, der sich ungeliebt und hässlich fühlt, zeigt sich, dass die Welt in Homo Empathicus nicht auf grenzenloser Empathie basiert, sondern auf schlichter Verdrängung und Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit zugunsten eines höheren Ziels.
Doch der große Knall bleibt aus. Zwar werden sukzessive weitere Probleme und gut gehütete Sehnsüchte sichtbar, doch spätestens im letzten Drittel der etwa einhundert Minuten Spielzeit ist die Gesellschaft wieder vereint. Wie zu einem einzigen Leib verschmolzen, kriecht sie über die Wiese und wiederholt ekstatisch Professor Möhringers Lehren. Die Konflikte werden wieder eingemauert, die Fassade neu verspachtelt, und der Zuschauer bleibt nach einem etwas abrupten Ende mit der Frage zurück, ob eine solche Gesellschaft lange überdauern kann.
Trauriger FriedenÜberdauern dürften jedoch auf jeden Fall die Gedanken und Erinnerungen, die der Zuschauer aus dem Stück mitnimmt. Dies liegt nicht zuletzt an den durchgehend engagierten und teils brillanten Leistungen der Besetzung, die das gesamte Ensemble des Deutschen Theaters umfasst. Besonders hervorstechend ist der Auftritt des Supervisors Meister Moo, verkörpert durch Gabriel von Berlepsch, dessen autoritärer Stil sich in jeder seiner präzisen Bewegungen widerspiegelt und der sich aus der fast schon lächerlichen Harmlosigkeit der restlichen Bürger emporhebt. Auch Emre Aksizoğlu und Rahel Weiss überzeugen als »die Wilden« Adam und Eva, die die Mitmenschen durch ihre Gewaltbereitschaft, Sexualität und ihr kapitalistisches Denken erschüttern.
Homo Empathicus steckt voller Humor und Witz, die jedoch immer wieder von Düsternis und Nachdenklichkeit durchbrochen werden. Und ebenso steckt der Zuschauer in einer Schraubzwinge aus Lachen und Beklemmung und muss nach seiner Befreiung erkennen, was für ein trauriger Ort eine gänzlich befriedete Welt sein kann. Das Stück steht damit ganz in der Tradition dystopischer Erzählungen, wie sie 1920 mit Jewgenij Samjatins Wir begannen und später von Aldous Huxleys Brave New World und George Orwells 1984 fortgeführt wurden. Hier wie dort wird ein Blick unter die Maske der Utopie gewährt und die unterdrückerische Macht dahinter enttarnt. Homo Empathicus zeigt die zeitlose Aktualität dieser Thematik in einer gelungenen und unterhaltsamen Variation.