Was bringt Geschichte? Wer Stephen Greenblatt liest, bekommt eine interessante Antwort. Greenblatt versteht es, Historisches mit unserem Alltag zu verknüpfen. Shakespeare, die Renaissance und das Christentum sind seine Schwerpunkte. So auch in seinem aktuellen Essay.
Von Gregor Schipp
Was bedeutet es, in einer vom Christentum geprägten Kultur zu leben? Diese Frage war mir bisher nicht besonders wichtig: An den Weihnachtsfeiertagen betäube ich mich traditionell mit Netflix: Nachdem man sich an Besinnlichkeit versucht hat und zu Völlerei übergegangen ist, erscheint das als ein konsequenter nächster Schritt. Letztes Jahr hat mich ein Text tatsächlich vom Binge-Watching abgehalten und zum immer neuen Wiederlesen verführt. Er trägt den Titel: Die Erfindung der Intoleranz. Wie die Christen von Verfolgten zu Verfolgern wurden. Es handelt sich um einen Essay des Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt.
Mit den Toten sprechenEr beginnt in Rom im zweiten Jahrhundert nach Christus. Das klingt jetzt nicht gerade nach einer Story, die uns, die wir aufwendig produzierte Serien gewöhnt sind, noch in ihren Bann ziehen könnte. Die Thematik wirkt spröde: zweites Jahrhundert, Entwicklung des Christentums – naja…
Aber dem ist nicht so: Greenblatt versteht es, geschichtliche Zusammenhänge fruchtbar zu machen. Sein bekanntestes Werk, Shakespearean Negotiations, leitet er mit dem folgenden Satz ein: »I began with the desire to speak with the dead.« Er sucht das Gespräch mit Menschen und Kulturen, die nicht mehr existieren. Sein Ziel ist es dabei, Modelle des Denkens und Fühlens herauszuarbeiten, die unser gegenwärtiges Leben prägen, aber eigentlich viel älter sind, als wir zunächst ahnen. Die Beschäftigung mit Geschichte ist für ihn nie Selbstzweck. Beeinflusst von Nietzsche und Foucault, glaubt er
In Die Erfindung der Intoleranz befasst sich Greenblatt mit der polytheistischen Kultur, die das Leben in Rom im zweiten Jahrhundert n. Chr. bestimmt hat. Er zeichnet folgendes Bild: Das römische Imperium lebte davon, dass es die Götter der unterworfenen Völker in die eigene Kultur integrierte. Das schuf Stabilität. Religiöse Rituale hatten in erster Linie gemeinschaftsstiftende Funktion und dienten der Strukturierung und Bewältigung des Alltags. Sie waren nicht streng getrennt von anderen Tätigkeiten wie: »Essen, Schlafen, Darm entleeren, Geschlechtsverkehr haben, Revolten oder Kriege austragen«.
Greenblatt fällt bei der Rekonstruktion dieser Kultur auf, dass es durchaus Sekten gab, die sehr radikal waren: Die römische Staatsmacht hatte beispielsweise immer wieder Ärger mit den Anhängern des Bacchus-Kultes. Diese fielen ständig negativ auf, da ihre religiösen Riten häufig in extreme Gewalt und Sexorgien ausarteten. Verboten wurde der Kult nicht. Seine Anhänger wurden eher wie heutige Fußballfans behandelt, die etwas zu leidenschaftlich auftreten: Man wollte ihnen ihre Freude an der Sache lassen, gab ihnen aber die nötige Orientierung, damit sie die öffentliche Ordnung nicht stören. Gleichzeitig erzählt Greenblatt von einer Sekte, die sich durch einen ungewöhnlich hohen Grad an Aggressivität auszeichnete: das Christentum. Die Christen brachten, so Greenblatt, den anderen Religionen extreme Verachtung entgegen, indem sie beispielsweise Kultstätten schändeten. Sie sprachen von der einen wahren Lehre und dem wahren Gott und wollten sich nicht in die polytheistische Kultur eingliedern. Gleichzeitig forderten sie bei den Herrschern religiöse Toleranz. Letztere waren zunächst einigermaßen hilflos, da dieses Glaubenskonzept damals noch unbekannt war.
Christliches Denken in unserem AlltagIn seinem Essay zeigt Greenblatt sehr anschaulich, wie eine ursprünglich polytheistische Kultur nach und nach zerstört wurde. Zudem geht er auf Denkfiguren ein, die im Zuge dieses Wandels entstanden und bis in die Gegenwart hinein wirksam sind: Die Idee der Toleranz, des Aberglaubens, aber auch Erlösungs- und Reinheitsdenken. All diese Denkmuster entspringen, so Greenblatt, der monotheistischen Kultur des Christentums, die sich am Ende gegen den Polytheismus durchgesetzt hat. Gerade Erlösungs- und Reinheitsdenken findet man heute, geschult durch diese Lektüre, nicht nur in öffentlichen Debatten, sondern auch in einigen Blockbustern wieder.
Greenblatts Essay bietet eine kurzweilige Lektüre. Das liegt unter anderem an seiner Komposition: Er beginnt mit einer Geschichte. Es handelt sich um die Rahmenhandlung des Dialogs Octavius, der im zweiten Jahrhundert von Minucius Felix verfasst wurde. Drei Juristen streiten miteinander, da zwei von ihnen Christen sind und der dritte ein Polytheist. In diesem Streitgespräch werden bereits alle Themen angerissen, die Greenblatt im Folgenden vertieft. In jedem Kapitel entfaltet sich dann jeweils eine thematische Nuance aus der Einstiegsgeschichte. Das Büchlein ist in zehn Kapitel eingeteilt – überraschend viele für 144 Seiten. Daher wurde mir das Lesen, trotz Feiertagsträgheit, an keiner Stelle mühsam.