Bekränzt mit imposanten Vorschusslorbeeren kam Vladimir Sorokin nach Göttingen: Die Neue Zürcher Zeitung nennt ihn den »Hexenmeister der Postmoderne«, die FAZ feiert ihn als »bekanntesten und besten Schriftsteller« seiner Heimat. Sorokins deutscher Verlag Kiepenheuer & Witsch präsentiert ihn gar als »wichtigsten zeitgenössischen Autor Russlands«, der mit seinem aktuellen Roman Telluria ein »vielstimmiges Meisterwerk« abgeliefert habe. Doch wie schlägt sich der Moskauer im Zwiegespräch?
Von Julian Ingelmann
Ein Blick in die vollbesetzten Reihen zeigt: Die literaturkritischen Superlative, mit denen die Feuilletonisten Vladimir Sorokin in den vergangenen Wochen bedachten, gingen am Göttinger Publikum nicht ungehört vorbei. Am Abend des 22. Oktobers bleibt kaum ein Stuhl im Literarischen Zentrum unbesetzt. Auf der Bühne nehmen drei Menschen Platz, die sich einer Herausforderung stellen: Autor, Moderatorin und Rezitator versuchen, ein Buch zu präsentieren, das sich gegen die Präsentation auf einer Lesung eigentlich sperrt: Telluria lässt sich nicht bündig zusammenfassen, in Auszügen vorlesen, auf die autobiografischen Inspirationsquellen befragen und dann klatschen alle. Telluria ist ein hochkomplexes Prosawerk.
In seiner retrofuturistischen Dystopie Telluria präsentiert Sorokin die Vielseitigkeit seiner Schreibkunst: In jedem Kapitel stellt er einen anderen Protagonisten in den Mittelpunkt. Er wechselt zwischen den Stilen, erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven und nähert sich verschiedenen Gattungen an. »Der sich ständig verändernde Zustand der heutigen Welt lässt sich nicht mehr in linearer Prosa einfangen«, erklärt Sorokin im Literarischen Zentrum. Telluria sei sein Versuch, eine neue Sprache zur Beschreibung der Gegenwart zu finden und die Instabilität unserer Lebenswelt in Worte zu fassen.
Steinchenordnung durch StimmkraftEine Lesung kann von einem Mosaik wie Telluria nur einzelne Steinchen vorführen. Moderatorin Susanne Frank, Slavistik-Professorin an der Berliner Humboldt-Universität, stellt sich einer anspruchsvollen Aufgabe: Sie muss nicht nur spannende Fragen stellen und die Antworten ihres Gesprächspartners übersetzen, sondern auch die präsentierten Textpassagen in einen größeren Zusammenhang einordnen. Frank bemüht sich, ein Panorama der fremden Welt zu zeichnen, die das Buch auf 400 Seiten mühsam skizziert. Das gelingt ihr nicht immer. Sie analysiert den Roman mit literaturwissenschaftlicher Genauigkeit – und überfordert damit das Publikum. Eingefleischte Sorokin-Fans mögen sich für die ständigen Verweise auf das Gesamtwerk des Schriftstellers und die Einordnung seines Schaffens in die Postmoderne interessieren. Alle anderen Zuschauer versuchen unterdessen, die dargebrachten Textpassagen zu durchblicken.
Während Sorokin selbst einige Textpassagen auf Russisch präsentiert, zeichnet Jochen Ganser vom Theater Rudolstadt für die deutsche Rezitation verantwortlich. Ganser gelingt es mit Bravour, den verschiedenen Facetten des Textes eine Stimme zu verleihen. Er spürt den dokumentarischen Tönen des Romans ebenso nach wie dessen Fanatismus, arbeitet die Spuren der Sehnsucht heraus und setzt kurze Zeit später zur Kampfrede an. Ganser präsentiert Telluria in seiner ganzen Mannigfaltigkeit. Mit Leichtigkeit gelingt ihm, woran sich Frank und Sorokin abmühen: die einzelnen Bausteine von Telluria so zu präsentieren, dass die Zuschauer einen Eindruck vom Gesamtbild gewinnen.
Literatur als SuperdrogeSorokins Auftritt ist von einer merkwürdigen Distanz zu seinem literarischen Schaffen geprägt. Sorokin hält sein Buch nicht grinsend ins Publikum und erzählt, wie viel von ihm selbst darin stecke. Stattdessen berichtet er, kein einziges Stück literarischer Prosa mehr geschrieben zu haben, seit er vor drei Jahren das letzte Wort von Telluria getippt habe. Vielleicht stört er sich auch deswegen an der Gesprächssituation im Literarischen Zentrum: »Einem Schriftsteller fällt es nie leicht, über sein eigenes Schreiben zu sprechen«, klagt der Autor mehrfach.
Doch auch wenn Sorokin mit seiner eigenen Schriftstellerei und den Werbemaßnahmen des Literaturbetriebs hadert, hält er die Bedeutung des geschriebenen Wortes hoch. Literaten vergleicht er mit Tieren, die ein Erdbeben schon spüren, bevor es sich auf dem Seismographenpapier abzeichnet. Die Superdroge seines Lebens sei nicht Tellur, sondern Literatur. Man müsse lediglich aufpassen, dass die vielen Bücher einen nicht träge machten.
Träge wirkt Sorokin zuweilen selbst. Doch darf seine äußere Ruhe nicht mit einem inneren Stoizismus verwechselt werden. Seine Gedanken sind radikal und bedrohlich – auch wenn er den Untergang des Abendlandes mit gelassener Stimme verkündet: »Die Routine des Alltags, das ist das grausamste. Und die Technologie mit ihren Smartphones wird uns nicht dabei helfen, sie zu überwinden. Auch nicht die Liebe. Die ist schön, aber leider nicht ewig.« Sagt er und grinst verschmitzt.