Wir schreiben das Jahr 1984. Oder doch nicht? Aomane, Protagonistin in Haruki Murakamis neuem Roman, ist sich einfach nicht mehr sicher. Und warum stehen plötzlich zwei Monde am Himmel? Sie kann es sich weder erklären, noch hat sie jemandem, mit dem sie darüber reden kann. Denn Aomane hat nicht viele soziale Kontakte und lebt abgeschieden in der Anonymität der Großstadt Tokios. So beschließt sie, dass sie ab jetzt im Jahr 1Q84 lebt – Q für question mark.
Von Marco Henkel
Wie Recht Aomane mit ihrer Schlussfolgerung hat, kann sie zu diesem Zeitpunkt nur erahnen. Denn durch einen Zufall ist sie auf dem Weg zu einem Termin in eine Parallelwelt. Nur wenige Details haben sich in dieser Welt geändert. Neben dem zweiten Mond sind auch die Uniformen der Polizisten anders. Bei ihrem Termin in einem Hotel angekommen, tötet Aomane einen Mann, mit einem einzigen Nadelstich. Eine Technik, die nur sie beherrscht. Denn Aomane ist eine kaltblütige Auftragskillerin, die Männer tötet, die in der Vergangenheit Frauen gequält haben. Davon mal abgesehen ist ihr Leben wenig abwechslungsreich und durch Einsamkeit geprägt. Sie ist 30, Fitnesstrainerin und lebt alleine mit ihrem Gummibaum unter Millionen in der Megacity Tokio. Mit bedeutungslosen Sexabenteuern kompensiert sie das Verlangen nach der einen großen Liebe, die sie seit ihrem zehnten Lebensjahr tief in sich trägt. Damals stand ihr Mitschüler Tengo ihr bei, als sie, die Tochter von Zeugen Jehovas, wie so oft gehänselt wurde.
Auch Tengo, der ebenfalls irgendwo in Tokio lebt, hat diese Begegnung nicht vergessen. Auch er hat nie die große Liebe finden können. Tengo versucht sich neben seiner Arbeit als Mathematiklehrer in seiner Freizeit als Schriftsteller. Ein ziemlich biederes Leben, auch wenn einmal die Woche immer um dieselbe Zeit eine verheiratete Frau vorbeischaut, um mit ihm Sex zu haben. Freunde hat er keine.
Die Handlungsstränge der beiden wechseln sich konsequent ab und entwickeln sich zunächst völlig unabhängig voneinander. Der Leser bekommt durch kleine Details nach und nach mitgeteilt, dass es diese Verbindung in der Vergangenheit gegeben hat, dass beide füreinander bestimmt zu sein scheinen. Und eigentlich spricht alles dafür, dass sich ihre Schicksale irgendwann in der Zukunft wieder kreuzen werden. Klingt nach trivialem ›kitsch as kitsch can‹ und der Rosamunde-Pilcher-Leser hört von fern schon das leise Läuten der Hochzeitsglocken. Der Haruki-Murakami-Leser tut dies sicherlich nicht. Denn Murakami ist nicht gerade für seine romantischen Happy-Ends bekannt. Das ist nicht weiter schlimm, soll es doch zum einen mindestens noch eine Fortsetzung zu dem Werk geben und zum anderen hat der Plot noch so viel mehr zu bieten als diese Liebesstory.
Doch die Frage, ob das alles Sinn macht, und warum das alles passiert, darf man sich bei Murakami niemals stellen. Am Ende sitzt man da und denkt mit Brecht: Ich sitze hier und seh betroffen, das Buch zu und alle Fragen offen. Denn wirklich sicher sein, dass man alles verstanden hat, kann man sich nicht. Das liegt nicht an der Sprache Murakamis, des vielleicht populärsten und einflussreichsten japanischen Schriftstellers der Gegenwart, denn sein Stil ist simpel und lakonisch. Es ist vielmehr das, was er sich ausgedacht hat. Denn sein Buch ist irgendwie alles: Ein bisschen Science-Fiction, ein bißchen New Age, ein bisschen Großstadtroman, ein bisschen Kriminalroman und ein bisschen Entwicklungsroman…und das alles wird zusammengehalten von einer typischen Murakami-Liebesgeschichte, die vor allem durch die Sehnsucht nach der einen großen Liebe geprägt ist. ›Das kann nicht gut gehen!‹, würde man bei jedem anderen sagen, bei Murakami funktioniert es irgendwie. Nicht umsonst wird er seit Jahren als potentieller Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Obgleich das nicht alle Kritiker so sehen: Sigrid Löffler sah sein Buch Die Gefährliche Geliebte im literarischen Quartett im Jahr 2000 eher als »literarisches Fast Food«. Im literarischen Quartett stand sie mit ihrer Meinung zwar alleine da, doch nachvollziehen kann man dies durchaus, denn an Murakami scheiden sich die Geister. Und auch dieses Buch pendelt irgendwo zwischen Hochliteratur und postmodernem Trash.
In Japan ist Murakami der Literaturstar schlechthin. 1Q84 (sprich 1984), in Japan 2009 erschienen, wurde bereits am Erscheinungstag unglaubliche 480.000-mal verkauft. Auch Leoš Janáčeks Sinfonietta und Anton Tschechows Reise nach Sachalin, die beide im Roman mehrfach erwähnt werden, wurden noch einmal zu Verkaufserfolgen. So ist für Fans von Murakami und seines magischen Realismus dieser Roman sowieso ein Muss. Für alle die es nicht sind, ist es ein Buch mit vielen Facetten, das trotz der über 1000 Seiten überraschend wenige Längen aufweist. Es lässt sich flüssig lesen und entführt den Leser in eine surreale Welt voller Sex, Mord und Betrug, aber auch voller Einsamkeit und Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Wer dazu nicht bereit ist und mit Murakami schon in der Vergangenheit nichts anfangen konnte, der sollte jedoch eher die Finger von dem Buch lassen, denn für den ist es nichts anderes als ein großer Blödsinn.