Am 12. und 13. November 2014 hielt Marcel Beyer in der Göttinger Aula die Lichtenberg-Poetikvorlesung. In seinen beiden ebenso feinkomponierten wie verspielten Vorträgen begab sich der Romancier, Essayist und Lyriker auf eine ernsthafte Suche nach den Schatten und Schattierungen des Lebens und des Schreibens darüber. Der hier veröffentlichte Essay begibt sich mit Beyer auf die Suche.
Von Silvana Zehnpfennig
Wer die im letzten Jahr in der Göttinger Aula gehaltene Lichtenberg-Poetikvorlesung von Marcel Beyer gehört oder deren unter dem Titel XX erschienene Druckfassung gelesen hat, der wird bemerkt haben, dass Beyers Vorträge keine Sonntagsreden mit einer Affinität zur Schönwetterplauderei sind. So beginnt Marcel Beyer seinen Vortrag mit einem apokalyptischen Diskurs, spricht vom Verschwinden der Welt, der Sprache und der Erinnerungen. Und auch erzähltechnisch ist Beyers Vorlesung komplex: Immer wieder greift er thematisch vor, springt hin und her und entfaltete seine Erzählung nicht starr logisch und streng kongruent. Auch bietet er die Thematik nicht nach einem seichten Schema, mit dem er seine Zuhörer auf geordnete Bahnen lenkt, denen sie einfach zu folgen haben. Er kreiert vielmehr dynamisch kreativ konzipierte Motiv- und Handlungselemente, die aufeinander aufbauen und ineinander verschachtelt sind. Lässt man sich aber auf diese Erzähl- und Geschichtsreise der besonderen Art ein, so entstehen variable Bilder mit ebenso variablen Bedeutungsmöglichkeiten, die zu noch variableren Betrachtungsweisen führen können.
Alice im Wunderland oder Das Prinzip der SelbstüberwindungBeyers episodischer Erzählgestus erinnert dabei an die – auch in der Vorlesung immer wieder aufgegriffene – Handlung von Lewis Carols Alice’s Adventures in Wonderland. Wie in diesem märchenartigen Text werden auch bei Beyer Handlungen und Sachverhalte unter verschiedenen Perspektivierungen mehrfach aufgegriffen und in einen jeweils anderen Fokus gerückt. Somit entsteht der Eindruck einer fortwährenden Bewegung der Handlung und einer permanenten Neuorientierung der Wahrnehmung.
Dabei versucht die Protagonistin Alice auf ihrem Ausflug durch das Wunderland die unbekannte Welt spielerisch zu erfassen, zu begreifen und kennenzulernen. Sie will verstehen, wie diese Welt beschaffen ist. Dazu lässt sie sich auf das phantastische Geschehen dieser Welt ein, versucht die Gesetze dieser Welt zu überlisten, zu umgehen, sie zu übertrumpfen oder gar zu korrigieren. In Situationen, in denen sie sich nicht mehr zurechtfindet, nimmt sie die Perspektive der Vernunft ein und versucht anhand von selbst aufgestellten Regeln die von der phantastischen Welt gestellten Rätsel und Probleme zu lösen. Die phantastische Märchenwelt bringt ein Für und Wider mit sich und stellt Alice immer wieder vor dieselbe Aufgabe: Es gilt, sich selbst zu überwinden, sich selbst zu erkennen und weiterzuentwickeln, neue Welten zu erkunden und sich in ihnen wieder- und zurechtzufinden.
Auch Beyer spielt mit seinen Figuren wenn er sie vorstellt, sie darstellt, sie präsentiert und gegeneinanderstellt. Er zeigt sie in ihrer Gewöhnlichkeit und gleichzeitig in ihrer Einzigartigkeit. Dabei versucht er, die Welt des Fiktiven mit der Welt der Wirklichkeit in einen Zusammenhang zu bringen. So stellt er zu Beginn seines Vortrages eine Figur vor, Georges Perec, ein französischer Schriftsteller des letzten Jahrhunderts, der in seinem Schreibexperiment Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen den Taumel des Gewöhnlichen und Immergleichen einzufangen versuchte. Dieser Perec, dessen Eltern, polnischstämmige Juden, den Zweiten Weltkrieg und die Shoah nicht überlebten, erweist sich auch im weiteren Verlauf der Vorlesung als eine zentrale Referenz: Perec, der in seinen Werken auch seine eigene Kindheitsepoche aufzusuchen versucht, vertieft sich in Details, wird abgelenkt und verliert somit immer wieder den Zusammenhang seiner eigentlichen Suche. Er kann sich einfach nicht erinnern und wenn doch, so ist er unsicher, ob diese Erinnerung auch festen Bestand hat. Die Unsicherheit lässt ihn sein Leben wie ein Puzzle erscheinen, sodass ihm die Wirklichkeit mehr und mehr zum Problem wird.
Perec gegenüber steht in Beyers Vorlesung unter anderem Veronica Ferres als Figur des öffentlichen Lebens. Die reale Ferres aber existiert, als Schauspielerin, in verschiedenen Rollen, und weil sie, so Beyer, nahezu jede Rolle auszufüllen vermag, weil sie in all ihren Rollen aufgeht, geht sie als reale Person verloren. Es entsteht der Eindruck, alle diese Figuren seien wirklich sie.
Im zweiten Teil der Vorlesung kommt schließlich eine weitere Figur hinzu: Cécile Wajsbrot, eine französische Schriftstellerin, auch sie ein Kind polnischer Juden, die – in ihrem biographischen Text Die Köpfe der Hydra – den Prozess des Erinnerns in einem anderen Sinne thematisiert: Sie füllt Erinnerungslücken von Familienmitgliedern mit eigenen Kindheitserinnerungen, denn sie ist so etwas wie die aufklärende Instanz ihres an Alzheimer erkrankten Vaters, von dem sie selbst behauptet, dass er nie so ganz anwesend gewesen sei in der realen Welt und mehr einem Menschen geglichen habe, der aus der Welt gefallen sei. Auch hier wird also der Versuch unternommen, ein Leben zu rekonstruieren, anhand von Daten und Fakten aus der eigenen historischen Beobachtung.
Auf der SucheDas Motiv der Suche ist ebenso charakteristisch für Beyers Vorlesung wie das des Nicht-verstehen-Könnens. Bei all den Bewegungen von einem Ort zum anderen, von einem Gedanken zum anderen, von einer Figur zur anderen und ja sogar von einer Welt zur anderen, lässt der Dichter keinen Kunstgriff aus, den Leser zu irritieren. Aus der Verwirrung heraus aber kann – im Moment des Rezipierens – ein Prozess des Verstehens beginnen.
Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Realität und Fiktion, zwischen Schein und Sein. So gehen in all den Lebenswegen der Figuren Schein und Sein komplexe Beziehungen ein, überlagern und durchdringen sich wechselseitig. Indem Beyer gerade für dieses Changieren sensibilisiert, formuliert er mit seiner Vorlesung auch einen Appell an den Rezipienten. Denn nicht selten lässt das Individuum des 21. Jahrhunderts sich von der Fülle der Zauberkastentricks der Medien in den Zylinderhut stecken; wie durch einen magischen Spruch verschwindet so das kritische Bewusstsein in den Tiefen des schwarzen Futterstoffes. Was aus dem Zylinder herausführt, ist da die Erkenntnis, dass zwischen den Farben Schwarz und Weiß, zwischen Schein und Sein, zwischen Realität und Fiktion eine Reihe von Verlaufsstufen existiert und dass das Individuum seiner Wahrnehmung in diesen Schattierung wieder vertrauen kann.
Die LeerstellenMarcel Beyer führt seine Zuhörerschaft in eine irritierende Welt von Bildern und er bietet zahlreiche Interpretationen. Diese können im Widerspruch zueinander stehen oder kongruieren, sie erheben jedoch niemals den Anspruch, genau zu wissen, was wahr ist oder falsch. Beyer überlässt es jedem selbst, ein Bewusstsein und ein Verständnis für seine Poesie zu schaffen, sie kennen zu lernen, zu begreifen und sich darin womöglich wiederzufinden. »Indem ich schreibe, lasse ich mich auf die Welt ein oder: Indem ich schreibe, nehme ich Distanz zu ihr ein«, heißt es in Beyers Vorlesung weiter. Eine besondere Rolle bei diesem Wechselspiel aus Einlassen und Distanznehmen kommt dabei den Leerstellen im Leben zu – Leerstellen, entstanden durch das Verblassen der Erinnerungen und das Vergessen des Erlebten. Leerstellen also, die das Individuum in seinem Verständnis von sich selbst gefährden.
Nicht zuletzt von diesen Gefährdungen erzählt Beyers Vorlesung. Und sie erzählt davon, wie daraus Poesie entstehen kann, wirkliche Poesie.