»Man wird dir sagen, das Leben besteht aus Verpflichtungen. Vielleicht hat man es dir schon gesagt. Aber das muss nicht stimmen.« In dieser Tonart diskutiert Daniel Kehlmann in seinem neuen Roman F die Frage nach dem selbstbestimmten Leben neu, indem er eben dieses vollkommen in Frage stellt.
Von Jonas Niemann
Daniel Kehlmann veröffentlichte Ende August seinen neuesten Roman F, der bereits jetzt zu einem der meistgelesenen Bücher dieses Herbstes avanciert ist. Nach erfolgreichen Veröffentlichungen, wie beispielsweise Die Vermessung der Welt oder Ich und Kaminski, sind die Erwartungen des Lesers an den neuen Roman hoch. Kehlmann bezeichnet ihn selbst treffend als »einen Familienroman«, doch verbirgt sich hinter dieser wenig konkreten Bezeichnung ein literarisches Werk, das in seiner Vielschichtigkeit und szenischen Tiefe weit mehr erzählt als nur die Geschichte einer Familie.
1984: Arthur Friedland, ein unzufriedener Realist mittleren Alters, beginnt völlig unerwartet ein neues Leben, nachdem sein Versuch fehlschlägt, die betrügerischen Machenschaften eines Hypnosekünstlers aufzudecken. Er lässt alles hinter sich und wird ein erfolgreicher Schriftsteller. Neben seiner Frau lässt er auch seine drei Söhne zurück: Martin, ein Sohn aus einer früheren Beziehung, und das eineiige Zwillingspaar Eric und Iwan, die sich so ähnlich sehen, dass nicht nur Außenstehenden, sondern auch ihnen selbst oft nicht klar ist, wer eigentlich wer ist.
Konstrukte aus LügenDie Handlung macht an dieser Stelle einen Sprung in das Jahr 2008. Die drei Brüder sind nun Männer, deren Leben zwar völlig unterschiedlich verlaufen, aber allesamt auf einem Konstrukt aus Lügen, Heuchelei und Betrug fußen. Martin ist ein übergewichtiger katholischer Priester, der, egal wie sehr er sich auch bemüht, einfach nicht an Gott glauben kann. Eric ist Vermögensverwalter, der die Anlagen seiner Klienten verloren hat und sich, um einen drohenden wirtschaftlichen und sozialen Absturz abzuwenden, immer weiter in illegale Finanzgeschäfte verstrickt. Iwan ist Schöngeist und Kunsthändler, der erfolgreich eigene Gemälde im Namen eines anderen verkauft. Ursprünglich war dies zwar als Scherz und empirischer Beweis für die Ungerechtigkeit des Kunstgeschäfts inszeniert, doch dann hatte sich die Lüge selbstständig gemacht und Iwan den Absprung versagt. Trotz unterschiedlichster Lebenssituationen scheinen die Lebenswege der drei Brüder auf außergewöhnliche Weise miteinander verstrickt. Der Leser erfährt von den Ereignissen eines Tages aus den Perspektiven der drei Brüder. Erst nachdem er alle drei Erfahrungsberichte kennengelernt hat, ergibt sich ihm ein schlüssiges Bild. Alles läuft auf einen Kollaps am Ende hinaus, der das wackelige Kartenhaus ihrer Lügen zum Einsturz bringen wird.
Das Leben der Brüder scheint im allzu großen Schatten ihres Vaters zu stehen. So lautet einer der wenigen Sätze, den Arthur Friedland zu seinem Sohn Martin sagte: »Es gibt keinen Gott.« Ein Satz, der Martin anscheinend nachhaltig geprägt hat, lebt er doch fortan das Paradoxon des ungläubigen Priesters. Eric buhlt sein Leben lang um Anerkennung und fürchtet nichts mehr als einen sozialen Abstieg. Unter Hypnose ließ sein Vater verlauten, dass Iwan und nicht Eric sein Lieblingssohn ist. Verständlich, dass sich in Eric der Wunsch nach Anerkennung besonders stark ausgeprägt hat. Iwan schafft es nicht aus dem Schatten seines eigenen Pseudonyms herauszutreten und dem Beispiel seines Vaters zu folgen. Ihm gelingt es nicht, sich von seiner Lebenslüge loszusagen. Die Geschicke der drei Brüder scheinen fremdbestimmt, alles hat etwas Zufälliges und gleichsam etwas Schicksalhaftes. Unterstützt wird dieses Motiv durch ein eingerücktes Kapitel, das Kehlmann vollkommen aus der eigentlichen Handlung hebt und in dem er die männliche Ahnenreihe eines unbekannten Erzählers bis ins Mittelalter nachvollzieht. Dabei wird dem Leser unwillkürlich vor Augen geführt, wie zufällig und dennoch schicksalhaft die eigene Existenz ist; wie viele Zufälle dazu geführt haben, dass man lebt. Schicksal – Fatum (lat.) – F.
Mit F ist Kehlmann ein Roman gelungen, der sowohl durch eine spannende und authentische Charakterzeichnung, als auch durch ein interessantes Spiel zwischen Realität und Fiktion besticht. Bis zuletzt bleibt es Aufgabe des Lesers zu entschieden, ob der Brüder Geschicke durch ihren freien Willen, durch gesellschaftliche Zwänge oder einfach durch Zufälle und Schicksal bestimmt werden. Eines aber steht indiskutabel fest: Mit F beweist Kehlmann zum wiederholten Male: Die Vermessung der Welt markiert zwar seinen größten kommerziellen Erfolg, nicht aber die Grenze seiner schriftstellerischen Fähigkeiten.
Ein Schriftsteller, der gar nicht an Lügen glaubt? Der auf eine Realität steht, die gerecht und ausgeglichen ist? Das ist aber keine Empfehlung!
Von einem Schriftsteller erwartet man eine Bereicherung der Fantasie, eine Flucht aus dem grauen Ton der Nachrichten und aus dem mechanisierten Alltag. Aber solange Kritik an die Finanzmärkte (!!!) angesagt ist, habe ich wohl keine Chance.
Santa, Santa, wo bleibst Du?