Wer ist TSERK? Was macht einen Text diskussionswürdig? Und was ist eigentlich digitale Laienliteratur? In einem Vortrag der Reihe »Um die Ecke gedacht« gewährt Julian Ingelmann am 8. Juni 2017 einen Einblick in sein Dissertationsprojekt. Auf Litlog verrät er schon jetzt, worum es dabei geht.
Von Julian Ingelmann
Wenn ich zur Kurzgeschichte Untreue des Autors TSERK eine literaturkritische Einschätzung abgeben sollte, würde diese nicht besonders positiv ausfallen: Ich finde den Text nicht witzig, obwohl ich erkenne, dass er lustig gemeint ist. Vielmehr nehme ich ihn als unlogisch, ermüdend und anstrengend wahr, weil sein Autor sinnfreie Absurdität mit surrealistischem Humor verwechselt. Gelegentlich ruft die Lektüre bei mir ein Schmunzeln hervor, meist jedoch nur ein genervtes Seufzen. Außerdem merkt man der Kurzgeschichte an, dass ihr Autor noch unerfahren ist: Die Handlung verwirrt, die Sätze holpern, Rechtschreibe- und Grammatikfehler trüben die Leseerfahrung. Warum ich hier dennoch darüber schreibe? Weil ich den Text aus literaturwissenschaftlicher Sicht äußerst interessant finde. Als Germanist faszinieren mich schließlich literarische Phänomene aller Art – und was ich bei Untreue so spannend finde, ist die Tatsache, dass es sich dabei um den meistdiskutierten Text im Schreibforum Wortkrieger handelt. Doch warum ist das etwas Besonderes? Und was ist Wortkrieger überhaupt?
Wortkrieger ist eine Online-Plattform, auf der LaienschriftstellerInnen selbstgeschriebene Texte veröffentlichen und diskutieren. Das Forum verzeichnet rund 13.000 angemeldete NutzerInnen, die seit Februar 1999 über 30.000 ›Kurzgeschichten‹ und fast 470.000 Beiträge verfasst haben. Obwohl diese Zahlen beeindruckend sind, ist Wortkrieger nicht das größte deutschsprachige Schreibforum; diese Ehre gebührt Gedichte.com, dessen 24.000 angemeldete Mitglieder in den vergangenen 17 Jahren gut 140.000 Gedichte und fast 700.000 Beiträge veröffentlicht haben. Doch nicht nur in ihrer Größe, sondern auch in ihrer grundlegenden Ausrichtung unterscheiden sich die deutschsprachigen Schreibforen voneinander: Während sich Gedichte.com und Wortkrieger auf bestimmte Gattungen spezialisiert haben, gibt es mit dem Fantasy- und Schreibforum und Hierschreibenwir auch Plattformen, die sich auf ein einzelnes Genre konzentrieren oder eine klar definierte Zielgruppe ansprechen sollen.
Die Schreibforen sollten in den literaturwissenschaftlichen Fokus rücken, weil dort eine Textsorte publiziert wird, die sich bis vor einigen Jahren noch weitgehend dem Zugriff der Germanistik entzogen hat: die Laienliteratur. Diese Literatur, die nicht von traditionellen Institutionen wie Verlagen, der Literaturkritik oder dem Buchhandel konsekriert ist, blieb vor der Digitalisierung unveröffentlicht und war dadurch nur äußerst schwer zu untersuchen; nun steht sie massenhaft und kostenfrei abrufbar im Internet. Doch die Schreibforen gewähren uns nicht nur einen interessanten Einblick in das literarische Schaffen von Laien: Dank der internettypischen Kommentarkultur bekommen wir auch Aufschluss über das Selbstverständnis dieser AutorInnen, über ihre Qualitätskriterien und ihre Vorbilder. Wir können beobachten, wie Menschen fernab der akademischen Literaturwissenschaft über Texte sprechen, wie sie sich zu den Texten ihrer professionellen KollegInnen positionieren und wie manche von ihnen versuchen, aus ihrem Hobby einen Beruf zu machen.
Weil das Material so umfangreich und wissenschaftlich noch kaum erschlossen ist, lohnt es sich, auch Grundsatzfragen zu stellen. Mit Blick auf mein Eingangsbeispiel möchte ich daher an dieser Stelle ergründen, was ein Werk der digitalen Laienliteratur diskussionswürdig macht. Dass sich TSERKs Text perfekt dafür eignet, diese Frage zu beantworten, beweisen die Zahlen: Er veröffentlicht seine Kurzgeschichte Untreue am 9. September 2005 in der Kategorie ›Humor‹, woraufhin sie 180 Mal kommentiert wird. Am Gespräch über Untreue beteiligen sich 56 NutzerInnen; erst vier Jahre nach Veröffentlichung des Textes trudelt der letzte Beitrag ein. Wie außergewöhnlich das ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass ein Text auf Wortkrieger durchschnittlich 7,6 Mal kommentiert wird und dass der Text mit den zweitmeisten Antworten lediglich 100 Kommentare hervorgerufen hat. Doch woran liegt das?
Ein analytischer Blick auf die Kommentare zeigt, dass die Diskussionsfreudigkeit der Community nicht mit der wahrgenommenen Qualität der Kurzgeschichte zusammenhängen kann. Zwar geben viele LeserInnen an, dass Untreue sie unterhalten habe, doch äußern sie auch klare Kritik. So schreibt MARVIN: »es hat mir einige Mühe bereitet, der Handlung zu folgen, da du extrem häufig zwischen den einzelnen erzählsträngen hin- und herspringst. die gags sind auch etwas, sagen wir mal, gewöhnungsbedürftig aber bekanntlich ist humor ja Geschmackssache.« ROLFSCHOENENBERGER findet den Text »zweifellos gut geschrieben«, gesteht aber: »Mein Humorverständnis hast du hier leider nur gestreift.« Selbst Kritiker wie PROOF erkennen jedoch an, dass sich TSERK mit der Kurzgeschichte viel Mühe gegeben hat: »Abschließend bleibt wohl nur zu sagen, dass augenscheinlich sehr viel Arbeit und Sorgfalt in Untreue stecken, weshalb sich wohl allzu verreißerische Kritiken von vorneherein verbieten.« Insgesamt kommt der Text bei den Forenmitgliedern also mäßig gut an; von einer überschwänglichen Aufnahme durch die Community kann keine Rede sein. Ähnlich wie im professionellen Literaturbetrieb sind es also nicht immer die besten Texte, die am längsten im Gespräch bleiben.
Im Gegensatz zu anderen vieldiskutierten Texten auf Wortkrieger, die sich beispielsweise mit Pädophilie, Behindertensexualität oder der Asylpolitik beschäftigen, zeichnet sich TSERKS Text aber auch nicht dadurch aus, dass er ein besonders sensibles oder kontroverses Thema in den Fokus rückt: Untreue erzählt von einem Mann, der seine Frau des Ehebruchs verdächtigt und daher einen Privatdetektiv engagiert. Die Geschichte behandelt kein allgemeines gesellschaftliches Problem, keinen Stoff also, an den sich sofort umfassende Generaldebatten anschließen ließen. Und tatsächlich beschäftigen sich die meisten KommentatorInnen auch eher grundlegend mit dem Inhalt der Kurzgeschichte; diskussionswürdiger scheinen ihr Aufbau, ihre vermuteten Vorbilder (Terry Pratchett, Douglas Adams, Arthur Conan Doyle) sowie das Humorverständnis ihres Verfassers.
Statt die hohe Zahl der Kommentare also mit der Qualität oder dem Inhalt der Kurzgeschichte zu erklären, führe ich sie eher auf das Verhalten ihres Verfassers zurück. TSERK zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass er seinen Text eher als Arbeitsmaterial denn als vollendetes Werk betrachtet. Er geht auf die Verbesserungsvorschläge seiner MitstreiterInnen ein und setzt ihre Änderungswünsche um. Damit suggeriert er seinen LeserInnen zum einen, dass es keine vergebene Liebesmüh ist, seine Kurzgeschichte aufmerksam zu rezipieren und anschließend zu besprechen. Zum anderen sorgt er so auch dafür, dass einzelne NutzerInnen den Text mehrmals kommentieren können – schließlich gibt es immer wieder neue Versionen, in denen potenziell andere Stellen überarbeitet werden müssen. So hält TSERK seinen Text über eine lange Zeit aktuell und im Gespräch.
Leider lässt sich die genaue Editionshistorie der Kurzgeschichte nicht mehr nachvollziehen; dass TSERK immer wieder und über einen langen Zeitraum an Untreue gefeilt hat, wird einerseits aus seinen Kommentaren ersichtlich, andererseits aus einem vom System generierten Hinweis, der besagt, dass die Geschichte zuletzt am »19.03.2007 um 05:19 Uhr« von ihrem Autor bearbeitet worden sei – also fast anderthalb Jahre nach ihrer ursprünglichen Publikation. Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen den Veröffentlichungspraktiken des professionellen Literaturbetriebs und der digitalen Laienliteratur: Während auf dem traditionellen Buchmarkt üblicherweise nur das erscheint, was gründlich ausgewählt, lektoriert und in Form gebracht wurde, werden in Schreibforen Texte publiziert, bevor sie jemand gegengelesen hat. Dort gibt es keinen Verlag, der als Gatekeeper zum Buchmarkt fungiert; im Gegenteil: Plattformen wie Wortkrieger und Gedichte.com locken ihre NutzerInnen mit dem Versprechen, dass dort (innerhalb gewisser Grenzen) alles veröffentlicht werden kann. Die Publikation eines literarischen Textes erfolgt hier also nicht am Ende des Bearbeitungsprozesses, sondern an dessen Anfang. Das heißt zum einen, dass die Texte in Schreibforen oft noch unfertig oder fehlerhaft sind, zum anderen aber, dass die AutorInnen viel mehr Kontrolle über ihre eigenen Werke haben. LaienschriftstellerInnen ändern nur dann etwas an ihrem Text, wenn ihnen ein entsprechender Vorschlag einleuchtet – und was sie nicht unterstützen, lassen sie eben weg.
Ganz ähnlich hält es auch TSERK, der nur die wenigsten Änderungsvorschläge seiner LeserInnen unhinterfragt umsetzt. Stattdessen debattiert er über deren Ideen, verteidigt einzelne Textstellen und erläutert seine Entscheidungen ausführlich. Das tut er so leidenschaftlich, dass er insgesamt 92 der 180 Beiträge unter seinem Text selbst verfasst. Außerdem bringt er seine KommentatorInnen durch gezielte Nachfragen und eine grundlegende Verteidigungshaltung dazu, sich gleich mehrmals zu Untreue zu äußern. So besteht die Kommentarspalte aus einer Reihe von Grundsatzdiskussionen, die häufig nur noch am Rande mit der eigentlichen Kurzgeschichte zu tun haben.
Das zeigt sich auch an einem Gespräch zwischen TSERK und CBRUCHER, das beginnt, als letzterer schreibt: »[D]as erste Kapitel hat mir wirklich gefallen, auch wenn Du ein wirklich spannendes Thema (Verdacht vermischt mit Tagträumen) durch unnötige Kalauer (stellenweise) verdirbst.« TSERK scheint mit dieser inhaltlichen Einordnung nicht einverstanden und fragt: »Reden wir von der gleichen Geschichte? Was für Tagträume?« CBRUCHER erläutert: »Die Wechsel im ersten Kapitel zwischen Verdacht und Gespräch mit dem Marlowe habe ich als Tagtraum interpretiert […].« Daraufhin formuliert TSERK seine Auffassung der Szene: »Nee, nee, der geht schon wirklich zum Detektiv.« Auf diesen Erklärungsversuch reagiert CBRUCHER jedoch etwas allergisch: »[W]as soll das: Ich bin der Leser, wenn das, was ich gelesen haben will, schlüssig erscheint, hast Du gar nichts zu melden, Du bist schließlich nur der Autor. Woher willst Du, als vollkommen Voreingenommener, wissen, was Du wirklich geschrieben hast? Ob der Text Deine Vorstellung wirklich abbildet? Ob da nicht vielleicht etwas völlig Anderes steht?«
Wir können hier beobachten, dass sich die Positionen von Autor und Leser bzw. Rezensent in einem stetigen Aushandlungsprozess befinden. Das ist besonders typisch für Schreibforen, weil hier die Grenzen zwischen den Rollen verwischen, während sie im professionellen Literaturbetrieb in der Regel strikt gezogen sind. Die meisten NutzerInnen auf Wortkrieger sind schließlich sowohl schreibend als auch lesend und kommentierend aktiv; der Rollenwechsel findet per Mausklick statt.
Schreibforen als digitales literarisches MikrofeldAm Beispiel der Kurzgeschichte Untreue von TSERK und der dazugehörigen Kommentare können wir einiges über die digitale Laienliteratur im Allgemeinen und das Phänomen der Schreibforen im Speziellen lernen. Wir können erkennen, wie gut TSERK es versteht, sich selbst und seinen Text über lange Zeit im Gespräch zu halten, ohne dass der Text dafür besonders heikel, kontrovers oder auch nur gelungen sein müsste – eine Tugend, die auch im professionellen Literaturbetrieb durchaus gefragt ist. Wir sehen außerdem, dass eine Plattform wie Wortkrieger als digitales literarisches Mikrofeld fungiert, das seine Regeln und Funktionsweisen teilweise aus dem professionellen Literaturbetrieb übernimmt, sich teilweise aber auch autonom davon entwickelt und eigene Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten herausbildet. Dies hängt auch damit zusammen, dass ein Schreibforum wie Wortkrieger in gewisser Weise auch eine Online-Plattform wie jede andere ist. Das zeigt sich etwa daran, dass manche NutzerInnen sich nur zu Untreue äußern, weil der Text schon so viele Beiträge provoziert hat; wenn die Kommentarzahl also eine kritische Masse erreicht hat, erregt allein das schon die Aufmerksamkeit der ForennutzerInnen, was wiederum dafür sorgt, dass die Kommentarzahl weiter steigt – die Kurzgeschichte geht ›viral‹.
Wie dieses Essay gezeigt hat, können wir schon anhand eines einzigen Textes viel über Schreibforen und die die digitale Laienliteratur lernen. Sie bieten eine riesige Menge an Untersuchungsmaterial, das bislang kaum erschlossen wurde, sich dank seiner offenen Zugänglichkeit aber für verschiedene Forschungsansätze und -methoden eignet: Neben literaturwissenschaftlichen Einzeltextuntersuchungen und -interpretationen können die Texte und Kommentare der LaienschriftstellerInnen beispielsweise auch einer computerphilologischen Distanzanalyse unterzogen werden; die Datenmenge eignet sich aber ebenso für soziologische Vorgehensweisen mithilfe der quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse wie für eine teilnehmende Beobachtung nach ethnographischem Vorbild. Genauso vielfältig wie die Möglichkeiten zur Erforschung sind aber auch die erklärungsbedürftigen Phänomene im Kontext der Schreibforen und die Fragen, die sich an die digitale Laienliteratur stellen lassen. Es wird Zeit, sie zu beantworten.