Arnon Grünberg ist der unbestrittene Literaturstar der Niederlande. Sein neuestes Buch Mitgenommen ist ein verhinderter Familienroman aus den vergessenen Krisenherden Südamerikas. Mit erzählerischer Raffinesse zeigt Grünberg auf, dass sich Kriege nicht nur auf dem Schlachtfeld abspielen.
Von Moritz Scheper
Als ›großen Einen‹ hat sich Harry Mulisch scherzhaft bezeichnet, in Anlehnung an das geflügelte Wort von den ›großen Drei‹ der niederländischen Nachkriegsliteratur, die er gemeinsam mit den früher verstorbenen Willem F. Hermans und Gerard Reve bildet. Dabei hatte sich mit Arnon Grünberg längst ein weiterer Autor ins Rampenlicht geschrieben. Nach dem Ableben Mulischs gilt nun Grünberg als der bedeutendste lebende Schriftsteller der Niederlande.
Der Sohn deutscher Eltern ist der unbestritten rührigste und innovativste Zeitgenosse im Kulturbetrieb des Nachbarn, ein Literaturstar, in 22 Sprachen übersetzt. Mitgenommen, die Geschichte einer ungewöhnlichen Patchworkfamilie, ist bereits sein zehnter ins Deutsche übertragene Roman. Zu Beginn der Handlung erfüllt der zeugungsunfähige Major Anthony den Kinderwunsch seiner hysterischen Frau Paloma – bei einer verunglückten Festnahme nimmt Anthony die durch ihn vollverwaiste Lina mit. Doch der unverhoffte Familienzuwachs trifft auf wenig Gegenliebe bei der Frau des Hauses: »Wieviele Leute kann man auf einmal beruhigen? Der Major hatte Übungen in crowd control absolviert, doch das hier war keine Menschenmenge, das war eine Familie. Jedenfalls sollte es eine werden.«
Der jüdische MessiasIm persönlichen Gespräch erlebt man Grünberg meist charmant und umgänglich. Im geschriebenen Wort allerdings gibt das Enfant terrible der niederländischen Literatur den kalkulierenden Spieler auf der Klaviatur der öffentlichen Empörung, nie um einen Skandal verlegen. Mal ist der Auslöser Grünbergs großer jüdischer Roman, De joodse messias, indem sich der Enkel eines SS-Mannes als Konvertit dem Wohl des jüdischen Volkes verschreiben möchte (»Auch das jüdische Volk braucht Lebensraum«), dessen Übersetzung in Deutschland zurückgehalten wird. Dann der lakonische Kommentar des in New York lebenden Schreibers auf die Zerstörung der Twin Towers am Morgen drauf in einer großen niederländischen Tageszeitung: »Ich mache mir Sorgen, wo ich heut Abend gut essen gehen kann.«
Zürich: Diogenes 2010
741 Seiten, 22.90 Euro.
Bereits Grünbergs letzter Roman Tirza über einen Familienvater, den die Beziehung seiner Tochter zu einem Mohammed Atta-lookalike umtreibt, wurde verzückt gepriesen als »Roman, den jeder Autor schreiben möchte.« Elke Heidenreich stellte Grünberg »in die erste Reihe zeitgenössischer Autoren«, und schloss nach eingehender Lektüre: »die Hölle ist immer in uns selbst!«
In die Hölle fährt der Leser in Mitgenommen erneut, nur dass die Hölle dort Südamerika heißt und auf Läuterung nicht gehofft werden darf. So todernst der Stoff auch ist, unter der Hand des empathielosen Spötters Grünberg hat jede Tragödie notwendig ihre Pointen; schwarze Milch Frappuccino, sozusagen. Etwa wenn Anthony im Vaterglück die abweisende Reaktion seiner Frau aufs Findelkind Lina herunterzuspielen versucht: »Du hast gerade ein Kind bekommen, darum bist Du so durcheinander.«
Die Figuren dieses multiperspektivischen Romans allerdings suchen in einem Krieg, dessen Fronten längst durch Familien und Personen verlaufen, nach Halt versprechenden Koordinaten, einem Gott oder Führer, der über sie wacht wie ein sorgsamer Onkel. Dass der niederländische Titel Onze Oom diesen Aspekt besser herausstreicht, mag als einziger Kritikpunkt an der deutschen Version eines ausgezeichneten Romans gelten, mit dem Grünberg den großen ›Einen‹ zwar nicht vergessen macht, doch zeigt, dass die kleine Sprache noch immer einen Großen hat.
Dazu: Moritz Scheper und Janet Boatin im Interview mit Arnon Grünberg
Sehr guter Artikel! Und die Überschrift ist witzig, hihi
Ich verstehe sowieso nicht, warum Grünberg bei uns nicht voll durch die Decke geht. Der ist so witzig und schlau! Ich mache mir übrigens auch Sorgen, wo ich essen kann. Die Mensa hat eindeutig abgebaut. Tolle Besprechung übrigens!
Hab das Buch letztens mal gelesen. Das Ende war tatsächlich sehr überraschend, aber muss man da gleich vom “Bildungsroman kapitalistischer Provenienz” faseln? Tirza war besser.