Vor 50 Jahren erschien Thomas Bernhards erster Roman Frost. Unser Autor Malte Gerloff hat sich des Werks angenommen, das 1963 den Durchbruch des umstrittenen österreichischen Schriftstellers begründete und nimmt uns mit auf eine Reise in das von Suff und Inzest geprägte Bergdorf Weng.
Von Malte Gerloff
Graue Wolken, dichter Nebel. Der in der Klamm hängt, der zwischen den Bergen hängt, der zwischen den Bäumen hängt, der zwischen den Häusern von Weng hängt. Ein scheinbar ungleiches Paar geht den Hohlweg entlang. Sie kommen aus Richtung des Gasthauses, welches in der Mulde liegt. In dem es hineinzieht zwischen die Balken, die es zusammenhält. In dem es zumeist kalt und dunkel oder biersäuerlich warm in den abendlichen Gaststubenstunden ist. Wenn der Wasenmeister und der Ingenieur zum Feierabend hineintreten. Oder dumpfe Arbeiter vom Kraftwerksneubau. Es ist der Maler Strauch und der Famulant, die dort ihren täglichen Gang gehen. Der Famulant, der zugleich der Erzähler ist und der im Auftrag des Malers erfolgreichen Bruders jenen beobachten, dessen Zustand analysieren, dessen Krankheitsverlauf aufzeichnen soll. Dieser Bruder ist Chirurg und der Chef des Famulanten – fern in der Klinik in Schwarzach. Aus welcher der Famulant in dieses Hochgebirgsdorf gereist kam. So schreiten sie dahin: langsam und eintönig und immer wieder die gleiche Umgebung umkreisend. Tag für Tag. Siebenundzwanzig an der Zahl werden es bis zum Ende sein, bis der Famulant es nicht mehr ertragen kann, was sich in Weng und in dem Maler Strauch abspielt und auch was in ihm vorgeht. Denn immer mehr wird er mit dem Vergehen der Zeit in Weng, dem Maler ähnlicher werden, nimmt dessen Sprache, dessen Gewohnheiten an: Erwacht auch nachts; philosophiert in ähnlicher Art und Weise vor sich hin. Schließlich kommt der Akt der Bewusstwerdung und damit der Abbruch der Beobachtungen. Selbstschutz. Doch noch gehen sie dahin: Niemals das Tempo anziehend, ruhenden Schrittes, vor der ewig gleichen Schnee- und Frostlandschaft gehen sie dahin.
Der Famulant hat gelogen, hat dem Maler erzählt er studiere das Recht, damit jener nicht ahnt, dass er vom Bruder geschickt worden ist. Der Maler sei ein hoffnungsloser Fall, wird der Famulant in einem Brief an den Bruder schreiben, der kurz vor dem Ende der Erzählung, an die Ereignisse oder wohl besser die Nicht-Ereignisse des sechsundzwanzigsten Tages angeheftet ist. Einer der »begriffslos in einer Welt der Begriffe« umherwandere, wird er schreiben, dies mache den Fall so hoffnungslos. Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg zu gehen und zu sehen ist eine pathologische Nabelschau. Diese beginnt, wie hier begonnen worden ist, mit dem Gasthaus und mit dem Dorf, in dem die Unzucht herrscht, in dem die Kinder mit dem Schnapslappen ruhig gestellt werden, damit sie nicht mehr schreien, die Menschen vor Unzucht und Inzest nur ein Meter vierzig im Schnitt werden und dem Suff so verfallen sind, das sie nur so durch die Gassen taumeln, mit der Wirtin, die ihren Mann ins Zuchthaus brachte, weil er versehentlich einen Gast mit einem Bierkrug ge- und somit auch erschlagen hatte. Nur damit sie ihren Gelüsten nachgehen kann – mit dem Wasenmeister, mit dem Gendarm und wer da noch so herkommen mag. Sogar dem Famulanten bot sie sich sogleich an, als er sein Zimmer bezog. Über die der Maler sagt, dass sie Hunde als Essen verkoche und bald darauf fällt auch dem Faulanten auf, wie wenig sie beim örtlichen Schlachter einkaufen muss. Schließlich bemerkt er, wie der Wasenmeister, der zugleich der örtliche Totengräber wie auch das Mädchen für alles ist, was niemand machen will – niederstes Beamtentum, einen toten Hundekadaver zum nächtlichen Stelldichein mitbringt. Schließlich weiß er nun, warum die Kellertür immer verschlossen ist und die Wirtin den Schlüssel immer bei sich trägt. Auch bei den Wilderern, die später auftreten und den Gebirgsbach rot durch das weiße Gebirgsgemälde fließen lassen, war eine Frau dabei – doch dieser Fall bleibt ungeklärt. Auch weil der Maler, der diesen Unrechtsakt bezeugen könnte, seine Zeugenschaft verschweigt, zu dem ganzen Fall schweigt.
»Man muß aufpassen, daß man nicht länger lebt als man dazu fähig ist«, sagte er. »Das Leben ist ein Prozeß, den man verliert, was man auch tut und wer man auch ist. Das ist beschlossen, bevor der Mensch da ist. Das ist dem ersten Menschen so ergangen wie uns. Auflehnung führt in eine tiefere Verzweiflung«, sagte er. »Vom vierzehnten Lebensjahr an keine Zerstreuung. Nach der ersten Frau keine Zerstreuung mehr. Verstehen Sie?« Gewitter seien die einzige Abwechslung »und die Blitze die einzige Poesie.« Er sagte: »Da man eingesperrt ist, in einer Einzelzelle eingesperrt ist, kommt man mehr und mehr auf sich selbst.« Die Fragen, die man sich stelle, brächten einen langsam um. »Aber man ist ja schon immer tot, wissen Sie.«
Kurz vor Ende beginnt der Maler neuerlich mit seinem Traum, der die ganze Geschichte als ein stehendes Motiv durchzieht, wieder ist sein Kopf zu groß, doch diesmal befindet er sich in der Gaststube, umgeben von den Gestalten, die den Roman bewohnen, und diesmal wächst sein Kopf unaufhörlich. Drückt den Ingenieur, drückt die Wirtin, drückt den Gendarm an die Wand, die nicht brechen kann. Zerdrückt sie. Die Körpersäfte laufen über die Stirn. Laufen dem Maler in die Augen wie Tränen, die er auch vergießt, vermischen sich mit diesen. Normalität gewinnt die Szene erst wieder, als der Maler wahnsinnig vor Schmerz und Trauer um seine Taten wird.
Diese Schmerzen, die in einem roten Faden aus Blut und Wahnsinn das Buch durchziehen, erscheinen als etwas grundsätzliches, existentielles, ja sie werden zu dem, was das Leben, ja was die Welt ist. Die Welt ist Schmerz – aus der Sicht des Malers oder in seinen Worten: »Im Winter fällt der Schmerz als Schnee.« Und da alles Schmerz ist, ist auch die Existenz Schmerz, denn: Existieren sei immer, so der Maler. Aber entgegen dieser Feststellung, dass der Künstler immer schon ein Toter, ein Gestorbener sein muss – wie dies auch Thomas Mann auf gesellschaftlicher Ebene schon so sah – lebt der Maler Strauch ja noch. Ja noch? Denn natürlich muss er enden, wie er enden muss, wie eine verlorene Seele enden muss: Er geht verloren in einem Schneesturm. Die Suche wurde eingestellt. Der Famulant war da schon zurückgekehrt in sein normales Leben. Doch bleibt die Frage, die die Erzählung aufwirft, unbeantwortet und muss von jedem Leser wohl auch selbst beantwortet werden: Nämlich nicht wie wahnsinnig ist der Maler wirklich, sondern wie wahnsinnig ist die Welt, in der er lebt, wirklich?