In Ned Beaumans kurzweiligem Roman Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort zu Ort reist der Expressionist und Bühnenbildner Egon Loeser dem Koitus hinterher – dicht gefolgt von seinem Konkurrenten Bertolt Brecht.
Von Philip Flacke
Hätte Robin Detje den Zweitling des Briten Ned Beauman im selben Verhältnis »Wörter Übersetzung pro Wort Original« ins Deutsche übertragen wie dessen Titel The Teleportation Accident, dann hätte der Dumont-Buchverlag einen Schinken von taschengurt-belastenden zweitausend Seiten zu verlegen gehabt. Auf dem hiesigen Buchmarkt läuft der Roman nämlich unter dem atemraubend langen Namen (Einatmen!) Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort zu Ort (Ausatmen!). Detje hat aber erstens mit der Gestaltung des Titels vermutlich ohnehin nichts am Hut und zweitens bei der Textübersetzung einen ganz respektablen Job gemacht. (Allein, dass »hand-kissings so formalised and ostentatious« zu zungestreichelnden »so abgezirkelten und pompösen Handküssen« werden!) Entwarnung also für aller Leser Wirbelsäulen und aller Taschen Tragegurte: 415 Seiten, 569 Gramm laut Großmamas Küchenwage.
Trotzdem: schwere Kost für Fräulein Prusselise. »Sex« auf der ersten, »Riesen-Arschloch« auf der zweiten Seite (sehr nutzdienlicher Bindestrich hier). Im Ton schnell dementsprechend derbe geht es zwischen den Buchdeckeln fast immer um das Eine. Beaumans Antiheld durchlebt qualvoll eine unfreiwillig keusche Dekade der 1930er Jahre, in der er von Metropole zu Metropole sozusagen dem Koitus hinterher reist. Wem das zu unfein formuliert ist, dem sei dringendst abgeraten von der Lektüre.
Teleportation: die Kunst, sich nicht mehr fehl am Platz zu fühlenBühnenbildner Egon Loeser ist frustriert. Frustriert, weil sein achso erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort zu Ort gar nicht funktioniert. Frustriert, weil sich niemand in Berlin mehr für den Expressionismus interessiert. Frustriert, weil auf jeder Party Bertolt Brecht im roten Sankt-Martin-Mantel auftaucht und mit dem schönsten Mädchen im Bett landet. Nichtmal an Koks kommt man noch ran. Und dann trifft Loeser sie: Annie Hall … Ach nein, pardon! (Das war der andere Stadtneurotiker.) – er trifft Adele Hitler (nicht verwandt oder verschwägert). Die ist jung und hübsch und Loeser erklärt auf der Stelle Beischlaf mit Adele zu seinem höchsten und heiligsten Lebensziel. Dummerweise hat Adele bald mit fast der ganzen Berliner Avantgarde geschlafen, nur mit dem Theatermann nicht.
Akteur Loeser stolpert von einer unterhaltsamen Szene zur nächsten. Wenn links raffiniert komische Figur Nummer Eins von der Bühne abgeht, wartet rechts Nummer Zwei schon auf ihren Auftritt. Die Dialoge erzählen von kuriosen Anekdoten und fesselnden Lebensläufen und dann steht Loeser wieder allein in Hamlet-Pose und sinniert monologisch über die Keuschheit seiner Existenz. Bunter hätte er, der Expressionist und Bühnenbildner, das auch nicht inszenieren können.
Beauman pointiert so spitz, reflektiert so sarkastisch über die eigene Erzählweise, dass auch größere Schwächen der Handlung in Sachen Stringenz und Zusammenhang nicht im Geringsten stören. Fischköpfige Amphibienmenschen, ein Schloss voll schwuler Nazioffiziere, ein verrückter Akademiker (der regelmäßig andere Akademiker meuchelt), Spionage, amouröse Affären, verschwundene Figuren der Weltgeschichte, Kriminelle verschiedener Couleur, Gespenster und das immer wiederkehrende Mysterium der Teleportation – Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus lockt laut und vielstimmig zur Lektüre.
Leserschaft mit Brille und PartyhutEinen recht unorthodoxen Zugang zur Historie hat Beauman schon mit seinem Erstling Flieg, Hitler, Flieg bewiesen, einer zutiefst skurrilen Geschichte über Naziinsekten und ominöse Menschenexperimente. Die Strategie ist die gleiche geblieben. Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus strotzt nur so von Cameo-Auftritten verschiedenster Berühmt- und Nicht-ganz-so-Berühmtheiten im Nebenzimmer.
»Außerdem ist Sartre hier.« »Der Franzmann? Den habe ich kennen gelernt. Er sieht aus wie eine Portraitzeichnung, die ein Vierjähriger von seinem Vater macht.«
Beauman stellt Bezüge her und zeigt Parallelen auf, die einem zwar die Haare in die Höhe, aber auch wenigstens ein paar kleine Lachtränchen in die Augen treiben dürften: Balzac, der laut Loeser nur schrieb, um mehr Frauen kennenzulernen, habe tatsächlich »eine seiner Verehrerinnen geheiratet. Aber vorher hatte er zweiundneunzig Romane geschrieben, und sie waren nur fünf Monate verheiratet, dann starb Balzac an Lungenbeschwerden. Selbst wenn man davon ausging, dass sie nach der Hochzeit jeden Tag gefickt hatten, hieß das, dass Balzac für jeden keuchenden Geschlechtsakt ein halbes Buch hatte schreiben müssen.« Wer sagt da, das sei nicht witzig?
Frauen kommen dabei wohl nicht so gut weg? In der fast unübersichtlichen Menge der Figuren sind nur sehr wenige weiblich. Loesers unbequem desillusionistische einzige Motivation ist, mit Adele zu schlafen. Das ist leider alles nicht gerade feministisch. Beauman stellt Frauen dar als bloße Akteurinnen in einem Spiel mehr oder weniger romantischen, vor allem aber sexuellen Begehrens – und Männer stellt er exakt genauso dar. Das ist vermutlich auch eine Art der Emanzipation?
Eine Brille Dürrenmatt’scher Groteske setzt uns Beauman auf und dazu einen ganz grausam albernen Partyhut. Sein Witz ist auf merkwürdige Weise wenig unkonventionell und gleichzeitig herrlich frisch und frech, ebenso kindisch wie kultiviert. Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus ist ein großes Vergnügen und auf keiner Druckseite dümmlich oder belanglos. Ein Kommentar, ein Roman, viel schlauer als er glauben machen will und ganz bestimmt intelligenter als vieles Ernsthaftere. Ein passionierter Texter des Verlegers schreibt über Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus: »Ein Zukunftsroman aus der Vergangenheit; ein Noir-Roman im Scheinwerferlicht; ein Liebesroman, dem es nur um das Eine geht«. Das ist so großartig treffend, dass ich es schlicht zitieren muss. THE LIST schreibt über Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus: »Ein energiegeladener, zugänglicher Ulysses«. Das ist so grottig deplatziert, dass ich es schlicht zitieren muss.