Der harmlos scheinende Titel des Stücks Der goldene Drache von Roland Schimmelpfennig (UA 2009) führt das Publikum genauso hinters Licht wie das verzerrte Dauergrinsen der asiatischen Imbissbetreiber versucht, über das menschliche Elend in ihrer Küche hinwegzutäuschen. Ein Sozialdrama à la carte.
Von Friederike Dressel
Hinter asiatischen Köstlichkeiten wie der Nummer 6, »Thai-Suppe mit Hühnerfleisch, Kokosmilch, Thai-Ingwer, Tomaten, Champignons, Zitronengras und Zitronenblättern (scharf)« verbirgt sich nicht nur die winzig kleine, stickige Küche des China-Vietnam-Thai-Restaurants »Der goldene Drache«, sondern zugleich das Epizentrum eines gesellschaftskritischen Sozialdramas. Das Stück Roland Schimmelpfennigs ist so einfach wie komplex: Ein junger Chinese, »der Kleine«, wie er von dem restlichen Küchenpersonal genannt wird, leidet an unerträglichen Zahnschmerzen. Da er sich jedoch illegal in Deutschland aufhält, kann er keinen Zahnarzt aufsuchen. Kurzerhand entschließen sich seine Kollegen, schnellen Prozess zu machen und den problematischen Zahn mit Hilfe einer Rohrzange zu entfernen.
Wie zu erwarten war, misslingt nicht nur die »Operation« – der Küchenjunge verblutet kurz darauf qualvoll –, sondern es ereignet sich noch ein weiteres Drama: Der gezogene, schwarze Zahn landet in hohem Bogen erst in der Thai-Suppe und dann im Mund einer wenig begeisterten Stewardess. Diese entledigt sich des unerwünschten Relikts, indem sie es in den nahe gelegenen Fluss wirft, wo kurz zuvor auch der Chinese – gleich einer Frühlingsrolle in einen Wandteppich eingerollt – vom Küchenpersonal entsorgt wurde. Glücklich vereint, treiben schließlich Mensch und Zahn der Heimat entgegen.
Gier, Geiz und GnadenlosigkeitDas Schicksal des Chinesen dient als das alles verbindende Element des Plots. Das asiatische Schnellrestaurant ist das brodelnde Zentrum des Mietshauses und gleichermaßen Schmelztiegel individueller Persönlichkeitskrisen und menschlicher Abgründe. Hinter den Fassaden lauern Eitelkeit und Verbitterung, Profitgier und Brutalität, genauso wie der allgegenwärtige menschliche Egoismus. Persönliche Miseren wie Verbitterung über die unwiederbringliche Jugend, ungewollte Vaterschaft und verletzter Stolz eines verlassenen Ehemanns resultieren, jede für sich, in unverhältnismäßiger Brutalität, die an den Schwachen und Unterlegenen der Gesellschaft gnadenlos ausgelassen wird. In Analogie zu Äsops und Jean de La Fontaines Fabel Die Grille und die Ameise beutet hier der Ladenbesitzer Hans die zierliche Asiatin als Prostituierte aus und versucht, aus ihrem Elend Profit für sich zu erzielen.
Genauso wie die Handlung ist auch die Inszenierung gleichermaßen schlicht und vielschichtig. Sowohl das Ensemble, das aus nur fünf Schauspielern besteht, als auch Bühnenbild und Zuschauerraum sind auf ein Minimum reduziert, und erreichen somit ein Maximum an Intensität. Das Konzept geht auf, denn durch die beeindruckenden darstellerischen Leistungen braucht es kaum mehr als einen chinesischen Lampion, einen Ghettoblaster und ein paar Bierdosen, um dem Zuschauer nach anfänglichem Gelächter das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Dass dabei größtenteils männliche Figuren von Frauen dargestellt werden und umgekehrt, tut weder der Klarheit des Stücks, noch seiner Seriosität Abbruch. Herausragende Leistungen erbringen insbesondere Gerrit Neuhaus als Großvater, Asiat und Kellnerin, der erst kürzlich den Nachwuchsförderpreis 2011 des Deutschen Theaters Göttingen erhalten hat, und Johanna Diekmeyer als der Asiat mit Zahnschmerzen und der verlassene Ehemann.
Als einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands hat Schimmelpfennig mit seinem Stück Der goldene Drache, dessen Titel so verwirrend banal erscheint, mit scharfem Blick eine unaufdringliche, aber umso intensivere Gesellschaftskritik geschaffen. Durch Surrealität und Satire reißt er Fassade um Fassade nieder, entblößt Schein und Sein und hinterlässt so auf der Zunge des Zuschauers trotz Kokos und Curry einen bitteren Nachgeschmack.