Ein weißes Mittelstandshaus mit Garage ziert die Bühne und bietet dem Zuschauer einen Projektionsraum für die perfekte Illusion. Doch der Eindruck einer Idylle täuscht. In Tod eines Handlungsreisenden wird der American Dream zum American Trauma; der Zuschauer wird Zeuge einer traurigen Geschichte.
Von Michelle Rodzis
Arthur Miller’s Tod eines Handlungsreisenden ist schon seit seinem Erscheinungsjahr 1949 ein äußerst erfolgreiches Theaterstück, kann auf einen Pulitzer-Preis zurückblicken, auf viele Auftritte am Broadway, auf mehrere Verfilmungen. Und doch berührt der 50 Jahre alte Stoff, der ganz ohne den sonst häufigen Aktualisierungsanspruch im JT auf die Bühne gebracht wird, auch noch heute.
Amerika in den 50er Jahren. Hauptperson: Willy Loman, seit Jahren für ein- und dieselbe Firma als Handlungsreisender tätig. Für seinen Lebensstandard und seine Familie kann er kaum aufkommen, nimmt deswegen große psychische und physische Belastungen auf sich. Jeder Dollar zählt. Willy glaubt an den »American Dream«, der ihm von seinem Bruder Ben vorgelebt wurde: Wenn man nur hart genug arbeitet, denkt der Verkäufer, werde es einem irgendwann honoriert. Irgendwann werde sich der ersehnte Erfolg auch einstellen.
Diesen tief verwurzelten Glauben projiziert Willy besonders auf einen seiner beiden Söhne, Biff, der mit 17 Jahren ein erfolgreicher Footballspieler in seiner Schule gewesen ist. Dass Biff nun 34 Jahre alt ist, immer noch keinen festen Job hat und eine »Ein-Dollar-Existenz« ist, wie er selbst sagt, will der Vater nicht wahrhaben. Sein Sohn habe, dessen ist sich Willy sicher, das Zeug, um einmal ganz nach oben zu kommen. Dass an dem Erwartungsdruck, den Willy aufbaut, seine ganze Familie zerbricht, dass er selbst schuldig am Scheitern seines Sohnes ist, merkt der Handlungsreisende nicht. Wie auch, hält er selbst den täglichen Belastungen nicht Stand und rutscht allmählich in den Wahnsinn.
Traurige Klimax nach unzählbaren Konflikten, getarnten Selbstmordversuchen und der Kündigung Willys: Wir werden Zeuge, wie sich Willy Loman, der einfache Handlungsreisende, mit Auspuffgasen vergiftet, um eine Auszahlung von 20.000 Dollar aus seiner Lebensversicherung für seine Familie zu erwirken. Wir sehen, wie ein Mensch an einer Idee zerbricht, weil er nicht fähig ist, von ihr abzurücken.
Und doch ist Tod eines Handlungsreisenden analytisch: Der Zuschauer beobachtet, die Schauspieler treten nur einmal während einer Restaurantszene über die Linie der Guckkastenbühne und durchbrechen die Illusion für einen kurzen Moment, um eine Zuschauerin nach dem Namen zu fragen und ihr den Stuhl abzunehmen – wobei der Zweck fraglich ist. Ein Wachrütteln der Zuschauer? Das ist bei der Inszenierung nicht notwendig, wirkt fehl am Platz.
In Tod eines Handlungsreisenden betrachtet der Zuschauer, wie verschiedene Faktoren ineinander greifen, einander beeinflussen und damit einen Mensch zum Zerbrechen bringen. Emotional involviert ist der Zuschauer dank der rein analytischen Präsentation, die auf eine vollständige Illusion abzielt, nicht – was sich allerdings als Vorzug entpuppt. Willy Loman fordert kein Mitleid oder Mitgefühl ein, sondern ermöglicht uns, seinen Untergang sachlich und nüchtern zu betrachten. Und überlässt uns damit auch unseren eignen Überlegungen und Deutungen. Wer ist schuldig am Tod Willy Lomans? Er selbst, weil er unter keinen Umständen von seinem Glauben abrückt? Der »American Dream«, der verspricht, was er kaum halten kann? Sein Arbeitgeber, weil er ihm kündigt? Die Gesellschaft? Welche Rolle spielt seine Familie dabei? Ist Willy Lomans Wahnsinn durch die äußeren Umstände determiniert, wie es uns Georg Büchners Woyzeck vorführt, oder wird ihm sein manischer Glaube an ein Ideenkonstrukt zum Verhängnis? Die Antwort lautet nicht A, B oder C. Willy Loman ist tot, wir verlassen das Theater. Und denken über das »warum« dieser traurigen Geschichte nach.