Norbert Scheuer veröffentlichte in den vergangen Jahren die Romane Der Steinesammler (1999), Flussabwärts (2002) und Kall, Eifel (2006). Für seine literarische Arbeiten erhielt er zahlreiche Preise, zuletzt den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2006). Für seinen im letzten Jahr publizierten Roman Überm Rauschen wählte er als Schauplatz erneut die Eifel.
Von Daniel Saar
Ein junger Mann ist an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt. Eigentlich wollte Leo für immer weg aus dem Kaff in der Eifel, in dem er aufgewachsen ist und in dem nichts passiert. Doch nun muss er seiner Familie helfen. Sein Vater ist bereits verstorben, die Mutter einsam und sein Bruder Hermann droht den Verstand zu verlieren. Er soll in eine geschlossene Klinik eingewiesen werden – er denkt, er sei ein Fisch. Hermann hat die meiste Zeit seines Lebens nur geangelt. Er und sein Bruder sind vom Vater schon früh in die Geheimnisse des Fischens eingeführt worden. Ihr Vater liebte das Fischen über alles: »Für ihn war Fischen das Leben, in dem er allerdings immer nur verlor. Fischen sei List, Geduld, geheimnisvolle Grausamkeit, Schönheit und Glück.«
Bei Scheuer wird das Angeln zur metaphysischen Erfahrung erhoben: »Fischen ist die Beschäftigung mit winzigen, fast unsichtbaren Dingen. Dinge, die aus einer anderen Welt stammen und die man letztlich nur erahnen kann.« Das höchste Ziel beim Fischen ist es, den großen Urfisch zu fangen, dessen Schuppen die Abbilder aller anderen Fische auf der Welt zeigen. Ist Hermann vielleicht verrückt geworden, weil er das höchste Ziel des Fischens nicht erreichen konnte?
Auch Leo will dieses höchste Ziel erreichen: »Ich versuche, den großen Fisch zu erwischen, stelle mich aber ungeschickt an, werfe nicht zielgenau, und verliere wertvolle Köder«, liest man ganz zu Anfang des Romans. Zu diesem Zeitpunkt steht Leo im Fluss, der sich hinter der Gaststätte befindet, in der er als Kind mit seiner Familie gelebt hat. Und in diesem Fluss steht Leo beinahe über die gesamte Romanhandlung hinweg. Er steht im Fluss, angelt und schwelgt in Erinnerungen an die gemeinsame Vergangenheit mit seinem Bruder und seinem Vater. Oft haben sie gemeinsam dem Rauschen des Wehrs gelauscht.
Die sonstige Handlung des Romans ist minimal. Jemand kocht einen Kaffee oder schmiert sich ein Brötchen. Ja, manche Figuren schlafen in der Gaststätte, die Leos Mutter gehört, vor Langeweile sogar einfach ein. Wenn es hoch kommt, klaut mal jemand einen Kickerball. Wie die Gaststättenbesucher in Scheuers Roman, droht auch der Leser bei der Lektüre in den Schlaf gewiegt zu werden. Es gibt keine Spannung, keine Höhepunkte. Alles fließt so dahin – wie der Fluss, der neben dem großen Fisch im Zentrum von Überm Rauschen steht.
Dabei scheint das Fehlen von Handlung zunächst gar nicht von Nachteil zu sein. Dass der gesamte Roman aus Erinnerungen besteht, gibt ihm einen gewissermaßen meditativen Charakter. Leider wird das »Fließen« der Gedanken aber immer wieder unterbrochen, indem zum Beispiel idyllisch anmutende Naturerfahrungen beim Fischen mit aufsteigendem Nebel und glitzerndem Tau, der an Erlenzweigen hängt, kontrastiert werden mit Erinnerungen des Protagonisten, die sich nicht nur sprachlich kaum in den idyllischen Zusammenhang fügen: Leo erinnert sich an seine Mutter, die ständig mit anderen Männern ins Bett ging, gelegentlich aber auch vom Vater vergewaltigt wurde. Manchmal wurde dem Vater das mit den fremden Männern nämlich zuviel, er betrank sich, bis er »sie schlug, dann nackt durch das Haus jagte, zur Mansarde, sich dort mit ihr einschloss und sie fickte, sie ebenso windelweich fickte, wie er sie zuvor geschlagen hatte.«
Bedauerlicherweise verliert auch das anfangs sehr reizvolle Bild des Flusses, in den Leo steigt, um das Leben des Bruders, sein eigenes und das der Familie Revue passieren zu lassen, seinen Reiz für den Leser, da Scheuer seine Bedeutung selbst aufdeckt: »So vergingen fast zehn Jahre, ein großer, ruhiger Fluss voller Zeit.« Ohne jeden Zweifel gibt es großartige Romane, in denen eigentlich wenig bis nichts geschieht. Überm Rauschen von Norbert Scheuer gehört – vor allem aufgrund jener Textpassagen, die die sonst langsame und poetische Sprache des Romans erheblich stören – keinesfalls dazu.