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Sanfte Seekühe

Im Atlas der abgelegenen Inseln (mareverlag) hat Judith Schalansky ihre Faszination für Gedankenreisen und Landkarten mit ihrer Liebe zum Maritimen zu einem bezaubernden Gesamtkunstwerk verwoben. So entstanden 50 literarisch fein komponierte Inselporträts.

Von Anna Hermann

Floreana. Einsamkeit. Semisopochnoi. Tristan da Cunha. – Leise vor sich hingeraunt könnten es Namen ferner Inseln ebenso sein wie Titel fremder Gedichte. Trauerente, Halsbandregenpfeiferweibchen, Eissee, Schollenfeld, Seerabe. – Wörter, die ausgesprochen und nachgedacht werden wollen und zu eben dem verführen, was das selbst ernannte »Atlas-Kind« Judith Schalansky als unmittelbare Auswirkung der fernwehgetriebenen Reise mit dem Finger über Atlasseiten und Landkarten beschreibt: »die Eroberung ferner Welten im Wohnzimmer der Eltern, das Flüstern fremder Namen«.

Nach der Veröffentlichung des typografischen Kompendiums Fraktur mon Amour (2006) und ihrem literarischen Debüt, dem 2008 erschienenen Matrosenroman Blau steht dir nicht, hat die 1980 geborene Autorin und Gestalterin ihre Faszination für Gedankenreisen und Landkarten mit ihrer Liebe zum Maritimen zu einem bezaubernden Gesamtkunstwerk verwoben: Der Atlas der abgelegenen Inseln, erschienen wo anders als im mareverlag, ist von Schalansky nicht nur geschrieben und gezeichnet, sondern auch ein von ihr gesetztes und beim Druck begleitetes Meisterstück. 50 Inseln in 5 Ozeanen sind darin auf je einer Doppelseite porträtiert. Eine fein gezeichnete Insel-Karte, ganz allein auf grau-blauem Meer, verrät auf der rechten Seite Umriss, Geländerelief und Ortsnamen des Eilands. Auf der linken Seite wird die insulare Abgelegenheit verortet in Entfernungs-Kilometern bis zum Festland und anderen Inseln, lässt sich die genaue Position ablesen in Breiten- und Längengraden und als Markierung auf einem kleinen Globus. Dazu der Name, die Größe und Einwohnerzahl, sowie ein Zeitstrahl mit zwei, drei Daten der Insel-Historie: Das alles sind kunst- und liebevoll in weiß, grau-blau, schwarz und sonnenorange gestaltete Koordinaten, die den Handlungsort vorstellen, in, auf und aus dem heraus Schalansky jede ihrer Inseln auf den unteren zwei Dritteln der linken Seite schließlich auch literarisch kartiert. Hier finden sich phantastische Geschichten wirklicher Begebenheiten, von schiffbrüchigen Seefahrern und enttäuschten Forschern, von tyrannischen Leuchturmwärtern und hartnäckigen Schatzgräbern. Es wechselt klassisches Insel-Abenteuer-Personal mit sanften Seekühen und selbstgekrönten österreichischen Kaiserinnen, Südseehitze mit arktischem Eissturm.

So wie die Inselkarten im großen weiten Ozeanblau als kleine aber vollständige und abgeschlossene Welten erscheinen, lässt sich die Insel-Prosa Schalanskys in der literarischen Tradition etwa des Poème en Prose lesen. Ihre Inselgeschichten sind fein komponierte, in sich geschlossene und doch ganze Welten oder Jahrhunderte erfassende Miniaturen. Und so variantenreich sich die Topographie der Inseln von Rapa Iti bis zur Kokos-Insel zeigt, so vielseitig sind auch Sprache und Stil der Prosastücke: verrätselt Märchenhaftes und der Gestus des Mythos finden sich in der Sprache, wenn etwa auf der Insel »ein paar Kilometer südlich vom Monts Jules Verne ein Fluss namens Styx vom Verlorenen See ins weite Meer führt«. Journalistische Krisenberichterstattung befindet »Auf der Weihnachtsinsel herrscht Krieg«, wenn es darum geht, das verwickelte Verhältnis der beiden dort vorherrschenden Populationen Rote Landkrabbe und Gelbe Spinnerameise zu analysieren. Lyrischen Passagen folgen ironisch-trockene; genussvolle Miniatur-Robinsonaden wechseln ab mit genau beschreibendem Forschungsbericht. Und immer wieder ist es die Insel selbst, die zur Poesie erklärt wird: »Ein Silbenklang wie eine Zauberformel, eine russischer Name für amerikanisches Land: Semisopochnoi«.

Ihre Vorstellung von Inseln als »theatrale[n] Raum«, in dem »[a]lles, was geschieht, sich beinahe zwangsläufig verdichtet zu Geschichten, zu Kammerspielen im Nirgendwo, zum literarischen Stoff«, macht die Autorin dabei selbst zu einem zentralen Thema. Floreana zum Beispiel ist bei ihr weniger der Name einer Insel im Pazifischen Ozean, 1°18′ S und 90°26′ W, als vielmehr Titel eines Dramas, für das sich die »dramatis personae« und »der Ort der Handlung« (-»Eine einsame Insel«, natürlich.-) ebenso angeben lassen, wie Kostüme und Ausstattung der »Freilichtbühne« und der Spannungsbogen mit Gattungsbezug: »Die Komödie gerät zum Krimi.« Die abgelegene Insel, das ist in diesem Atlas vor allem der Ort für Erzählen und Imagination. Ein ferner und fremder Ort, an dem nüchtern-papierene Fakten im Meer glitzernde Fiktion werden können, und umgekehrt, abenteuerliche Geschichten zur tradierten Historie.

Buch-Info

atlas
Judith Schalansky
Atlas der ablegenen Inseln
Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde
Mare: Hamburg 2009
144 Seiten, 34,00 €

 
 
Landkarten, so stellt die in der DDR aufgewachsene Autorin fest, »bieten bei aller vermessenen Objektivität doch kein Abbild der Wirklichkeit, sondern eine kühne Interpretation«. Vor allem politische Karten erzählen nicht nur Geschichten, sondern es kann immer auch der Ausdruck einer Weltdeutung, eines ideologischen Zwischenschritts vom wirklichen zum kartierten Ort in ihnen mitgelesen werden. Der Atlas der abgelegenen Inseln interpretiert die entlegenen Pazifik- oder Antarktisorte zweifelsohne aus der Blickrichtung des europäischen Festlands, von wo aus traditionell Träume von Schatzinseln und Südseefreizügigkeit aufs weite Meer projiziert werden: »Revolutionen werden auf Schiffen verkündet, Utopien auf Inseln gelebt. Das es etwas anderes geben muss, als das Hier und Jetzt ist eine tröstender Glaube.« Ein Phänomen, das der Atlas nicht verschweigt, sondern vielmehr demaskiert. Er erzählt nicht nur vom Aufbruch, auch vom Scheitern der Südseepioniere und Arktisforscher, weniger von weißen Stränden und hohen Palmen als von dürrem, rauem und unwirtlichem Land. Viele der 50 Geschichten offenbaren Düsteres, Makaberes oder Skurriles – »Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch« ist der Titel des schönen und klugen Vorworts Schalanskys und wohl auch ein Geheimnis des literarischen Potentials der abgelegenen Inseln. So verlockend sie auf den ersten Blick auch erscheinen, wird man sich ihre Schattenrisse nicht neben Amrum oder Föhr als demonstrative Erinnerung an Sommer-Urlaubs-Utopien aufs Autoheck kleben wollen. Aber immer und immer wieder von ihnen lesen. Nachmittage lang. Und flüstern: Floreana. Einsamkeit. Semisopochnoi. Tristan da Cunha.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 9. April 2010
 Kategorie: Belletristik
 Bild aus dem Atlas der abgelegenen Inseln, mit freundlicher Genehmigung des mareverlags
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