Literatur kann auch anders sein. Wer keine Lust auf Goethe hat, findet in der Sammlung Seifert alte Bekannte wie Pippi, Emil, Zora und Co., aber auch unbeachtete Nusshexen, Rundfunkmännlein und rebellierende Frösche. Doch bei aller Kindheitsidylle macht sie auch deutlich, dass es im Wunderland der Kinder- und Jugendliteratur nicht nur grinsende Katzen, sondern auch despotische Königinnen gibt.
Von Julia Hoffmann
Nostalgie und EntdeckerfieberBei der Betrachtung der Kinder- und Jugendbücher der Sammlung Seifert werden bei Erwachsenen schnell Erinnerungen an eine glückliche Lesekindheit wach. Mit schmunzelnder Distanz erinnern wir uns, wie wir uns unter der Bettdecke, eine Taschenlampe in der Hand, nach Neverland und Narnia gelesen haben. Wie wir uns vor Long John Silver gefürchtet, mit Charlie Bucket gefiebert und den Gurkenkönig zum Teufel gewünscht haben. Längst vergessene Kindheitszeugen tauchen plötzlich vor uns auf und lösen eine Erinnerungsflut aus.
Neben der eigenen Kindheitssehnsucht entdeckt man aber auch neue und unerwartete Bücher und Hefte – wie das avantgardistische Bilderbuch von Hilde Krüger mit dem Titel Widiwondelwald, dessen Illustrationen ausschließlich aus Dreiecken zusammengesetzt sind, oder Schaefer-Asts freiheitlich-subversives Bilderbuch für Kinder und solche, die es werden wollen oder Der rote Wunderschirm, von dem nur drei Exemplare bekannt sind. Man stellt fest, dass es nicht nur die eine Kinderbuchversion von Jonathan Swifts Gulliver´s Travels gibt, sondern gleich hunderte. Wohlig staunend klappt man ein Buch auf, das sich dreidimensional entfaltet. Andere Bücher rufen eher Wut und Entrüstung bis hin zu Ekel hervor, da sie mit nationalsozialistischem Gedankengut getränkt sind.
Dabei sind Kinder- und Jugendbücher in einer Universität keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wurde Kinder- und Jugendliteratur von der Wissenschaft verschmäht und auch heute gilt man mancherorts als Exot, wenn man sich mit solchen Büchern beschäftigt. Dabei hat sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass die früh gelesene Literatur für die Entwicklung von Lesekompetenz und Lesefreude, von Werten und Moralvorstellungen wichtig ist. Spätestens seit ein gewisser Jungzauberer durch die Medien geistert, ist Kinder- und Jugendliteratur zudem auch für eine breite Masse an Erwachsenen interessant. Die Grenzen zwischen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur verschwimmen immer mehr. Außerdem lassen sich gesellschaftliche, kulturelle, pädagogische, historische und politische Entwicklungen anhand historischer Kinder- und Jugendbücher nachverfolgen. Hieran sieht man schon: Kinder- und Jugendliteratur ist ein weites Feld, das nicht nur von Literaturwissenschaftlern beackert werden kann. Da dieses Feld jedoch lange ignoriert wurde, verfügen die meisten Universitätsbibliotheken über so gut wie keinen Bestand an Kinder- und Jugendbüchern. Deshalb sind private Sammlungen so wertvoll.
Einzelne Menschen waren es, die Kinder- und Jugendliteratur für uns erhalten haben. Denn die meisten dieser alten Bücher, von Kinderhand beschädigt, angemalt und zerlesen, wurden verfeuert oder landeten im Müll. So sind die Bände, die von Sammlern über Jahrzehnte hinweg mühsam zusammengetragen wurden, für Universitäten meist die einzige Möglichkeit, um an größere und große Bestände von Kinder- und Jugendbüchern zu gelangen.
Zeichnung aus dem Buch Treasure Island von Robert Louis Stevenson.
Jürgen Seifert, SammlerEiner der wichtigsten Sammler von Kinder- und Jugendliteratur war Jürgen Seifert. Der Politikwissenschaftler und Bürgerrechtler erkannte ihren wissenschaftlichen Wert schon zu einem Zeitpunkt, an dem diese Medien vom wissenschaftlichen Betrieb meist noch naserümpfend abgetan wurden. Über fünfundzwanzig Jahre lang hat Seifert unermüdlich gesammelt – auf Flohmärkten, in Antiquariaten und schließlich auch im Internet. Fast 12.000 Bände umfasst die Sammlung heute. Dabei war Seifert kein ausgesprochen bibliophiler Sammler, keiner, der ausschließlich den schönen und teuren Schätzen nachjagte, obgleich er auch prunkvolle und handkolorierte Bilderbücher – wie Kreidolfs Der Buntscheck oder Freyholds Hasenbuch – nicht verschmähte. Wie sein Vorbild Walter Benjamin wollte auch Seifert die Geschichte der Kindheit und Erziehung in Papierform einfangen. So sammelte er die Texte, die in der Forschung als exemplarisch gelten oder einen Paradigmenwechsel zeigen. Er kaufte Zeitgeschichte in Wort und Bild und fing bei den Anfängen der Kinderliteratur an. Das älteste Buch ist Fénelons Telemach und stammt aus dem Jahre 1715. Die jüngsten Bände wurden in den frühen 1990er Jahren gedruckt. Seine Sammlung zeigt, welche Kindheitsbilder und welche Kinderliteratur in einer bestimmten Zeit vorherrschend gewesen waren. Außerdem beschränkte Seifert sich nicht nur auf Bücher, sondern trug auch zahlreiche Zeitschriften, Groschenhefte und Kinderbeilagen zusammen.
Die Bücher und Hefte vermitteln einen Eindruck von Literatur, der durch die Lektüre von Sekundärliteratur nicht zu ersetzen ist. Ein Reprint ruft nicht die Begeisterung hervor, die ein dreihundert Jahre altes Buch in einem interessierten Betrachter auslöst. Handkolorierte Illustrationen haben eine Farbkraft, die auch mit modernen Techniken nicht reproduzierbar ist. Abgesehen davon werden die meisten Texte der historischen Kinder- und Jugendliteratur heute nicht mehr verlegt. Meistens gibt es eben nur jene Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert. Wer also zu historischer Kinder- und Jugendliteratur forschen möchte, der braucht eine Bibliothek vor Ort, in der er solche Texte findet. Der Forscher in Göttingen hat somit ein besonderes Glück, dass er mit der Sammlung Seifert, der kleineren, aber ebenfalls gewichtigen Sammlung Vordemann und dem Bestand von Kinder- und Jugendbüchern aus dem 18. Jahrhundert, der sich im historischen Gebäude der SUB im Papendieck befindet, problemlos an viele Bücher gelangt.
Kinder- und Jugendliteratur als InstrumentEinzigartig an der Sammlung Seifert ist vor allem, dass Seifert sich besonders dafür interessierte, wie Literatur zur Vermittlung von Ideologien und als Erziehungs- und Sozialisationsinstrument eingesetzt wird. Seifert wollte wissen, wie seine frühe Lektüre den Menschen prägt, wie er sich eine politische Meinung bildet und welche Rolle dabei die Literatur spielt. Er wollte wissen, welche Denkmuster in Kinder- und Jugendbüchern vorkommen und ob und warum wir diese annehmen oder nicht. Solche Fragen sind für alle diese Bücher interessant. Egal, ob es sich um Abenteuerromane, Bilderbücher oder Mädchenliteratur handelt. Ganz nebenbei wird z.B. in Otfried Preußlers Die kleine Hexe veranschaulicht, dass Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Zivilcourage erstrebenswert sind. Andere Texte und Bilder entwerfen hingegen Weltbilder, die wir Kindern nicht vermitteln wollen. Einige preisen auch so offensiv und dezidiert eine bestimmte Sache an, dass man von gezielter Werbung oder sogar Propaganda sprechen kann. Mal geht es darum, die Jugend für den Krieg zu begeistern. Mal soll sie vom Eintritt in die Gewerkschaft überzeugt werden. Für Wandervogelbewegung, Turnvereine, Naturschutz und Parteien wird geworben.
Grafik aus dem Buch Widiwondel von Hilde Krüger.
Genau diese offensichtlich politische Literatur, die oft auch von Parteien und Verbänden herausgegeben wurde und immer noch wird (!) fehlt auch in den meisten Bibliotheken für Kinder- und Jugendliteratur. Doch Seifert sparte in seiner Sammeltätigkeit kein noch so dunkles Kapitel der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur aus. Im Gegenteil. Ein besonderer Schwerpunkt der Sammlung liegt auf der Literatur zur Zeit des Nationalsozialismus. Eine Zeit, die ihm als Politikwissenschaftler, aber auch als einem der 1928 Geborenen, besonders am Herzen lag. Sätze wie »Bin ich erst groß und nicht mehr klein, will ich Soldat des Führers sein« (Koch-Gotha: Mit Säbel und Gewehr) verdeutlichen besonders eindrücklich, was mit so einer Literatur bezweckt werden sollte und entfalten dabei ihre ganze Grausamkeit. Gerne möchte man an dieser Stelle sagen, dass es sich hier nur um einen historischen Wimpernschlag der Kinder- und Jugendliteratur handelt, doch leider ist dem nicht so. Denn auch wenn Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und die Diffamierung von Gegnern hier wohl ihren Höhepunkt in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur gefunden haben, gibt es auch heute noch Kinder- und Jugendmedien, die alles andere als politisch korrekt sind.
»Im Wunderland …?« nannte Jürgen Seifert eine kleinere Präsentation seiner Bücher im Rahmen des vierzehnten Hannoverschen Bibliophilen-Abends. Sein Wunderland zeigt alle Facetten der Kinder- und Jugendliteratur: die schönen wie die schrecklichen. Die Sammlung Seifert ist Inspirationsquelle, Lehrer, Schatzkammer, Giftschrank und Mahnung zugleich. Wer dies selbst in einem ersten Eindruck erleben möchte, dem kann man nur die Ausstellung Der rote Wunderschirm. Kinderbücher der Sammlung Seifert von der Frühaufklärung bis zum Nationalsozialismus ans Herz legen. Bis zum 12. Februar 2012 kann man hier in die vielfältige und kontrastreiche Bücherwelt von Jürgen Seifert eintauchen.