Gertraud Klemms Roman Aberland und Sarah Diehls Streitschrift Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich hätten am 10. Dezember 2015 im Literarischen Zentrum eine Kontroverse entfachen können. Ein Abend über »Mütter-Mythen« war geplant, ein Plädoyer für alternative Familienmodelle das Resultat.
Von Stefan Walfort
Die weiße Rückseite eines Plakats wird ausgebreitet. Darauf wird ein Youtube-Clip projiziert, der die knapp vierzig Gäste zum Schmunzeln animiert: In der Serie Knallerfrauen konfrontiert Martina Hill ihre achtjährige Tochter mit deren Zukunft als Erwachsene. Dabei geht sie alles andere als behutsam vor: »Die große, große Scheiße geht dann los.« Nach Schwangerschaft und Heirat könne sie sich so was wie Karrierewünsche abschminken. Die »große, große Scheiße«, die blüht, wenn Frauen erwachsen werden, nehmen Autoren seit langem immer mal wieder aufs Korn: 1878 lässt sich Nora in Ibsens Drama durch ihren Gatten zum »Vögelchen«, zur »süße[n] kleine[n] Singlerche« degradieren. Sie erträgt, wie er sie wegen ihrer Liebe für Makronen maßregelt, wie er sie verhört, wie er sie zur Passivität verurteilt, weil er es nicht leiden kann, wenn sie ohne sein Einverständnis das Puppenheim verlässt.
Um 1927 darf in Horváths Erzählung das Fräulein Pollinger bei Männern »ab und zu auf einem Motorrad hinten mitfahren« ‒ nicht ohne das durch sexuelle Abenteuer zu entlohnen. Der Gedanke, schwanger zu werden, peinigt sie. Auf einer Wanderung trichtert ihr Begleiter ihr ein, dass »die Erschütterungen beim Abwärtssteigen sehr gut dafür wären, daß sie kein Kind kriegt.« 2015 kreist in Gertraud Klemms Aberland sowie in Sarah Diehls Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich nach wie vor alles um die Tristesse, unter der Frauen zu leiden begönnen, wenn sie sich in die Fesseln der Ehe legen und sich obendrein gar zum Kinderkriegen nötigen ließen. Durch die Modifikation des Stoffs aus dem männlich dominierten Pool kanonisierter Literatur erkämpfen die Autorinnen ein wenig feministische Deutungshoheit.
Kinder auf Kosten der SelbstachtungDie Hauptleidtragende in dem jüngsten Roman der Bachmann-Preisträgerin Klemm ist die 35-jährige Franziska. Um den Haushalt zu erledigen und den Sohn Manuel zu erziehen, vernachlässigt sie ihre Dissertation. Zu promovieren plant sie über die »›Bestimmung der akuten Toxizität von Nanosilber in Zebrafisch-Embryonen und -Larven‹«, weil ihr das Spaß macht und sie das zugleich für »zukunftsorientiert« hält. Bittere Bestandsaufnahmen à la »alle haben zwei Kinder, zwei ist die einzige unverdächtige Kinderzahl, alles andere erregt Verdacht, ein Einzelkind ist der Beweis für krankhaften Egoismus«, die ebenfalls in ihrem Buch zu finden sind, bleiben in Göttingen unerwähnt. Dass Franziska Wünsche ihres Lebensgefährten Tom nach körperlicher Nähe als manipulativ wahrnimmt, darin ein Drängen auf Lohn für vermeintliches Entgegenkommen, ähnlich wie bei Horváth, zu erkennen glaubt, spart Klemm genauso aus wie Franziskas Tiraden, mit denen sie auf Toms berufliche Erfolge reagiert, weil sie nun endgültig ihre eigenen Felle fortschwimmen sieht. Ihrem Ruf als »wütende Autorin«, wie Klemm auf ZEIT ONLINE charakterisiert wird, entspricht sie in Göttingen nicht wirklich.
Nachdem Einblicke in Franziskas Gedanken häufig durch erlebte Rede gewährt werden, zeichnet Franziskas 58-jährige Mutter Elisabeth die Ich-Perspektive aus. Sie leidet unter einem allerorten sichtbaren Jugendwahn. Gerne liegt sie nach dem Schwimmen in der Sonne und vergleicht die Köper ihrer Mitmenschen. Gerne genießt sie ansonsten kostspieliges Essen. Gerne kommentiert sie diese Leidenschaft mit einer gehörigen Portion ihres selbstironischen Humors, von dem, wer das Buch liest, sofort Nachschlag verlangt:
Manchmal denke ich, wenn wir unsere Fortpflanzung erfolgreich abgeschlossen haben, schwärmen die Nerven aus und wandern von den erogenen Zonen in die Mundhöhle und in die Zungenspitze.
Schwer nachvollziehbar ist die Auswahl des Auszugs über Elisabeths Faible für einen Fischhändler, für den sie sich extra aufbrezelt, als sie für die Verlobungsfeier ihres Sohnes Elias und dessen Partnerin Louisa Fisch einzukaufen plant. Zwar erfährt das Publikum vom Wunsch Elisabeths nach einem Enkelkind, das ihr Elias bescheren solle. Um zu verdeutlichen, wie Elisabeth den Druck auf vor allem Franziska verstärkt, wären andere Passagen sicher geeigneter gewesen. Mit einer Kostprobe aus dem letzten Kapitel gelingt es Klemm dennoch, den wesentlicheren Konflikt wieder in den Fokus zu rücken: Franziskas Einstellung zu einem zweiten Kind bleibt ambivalent. Obwohl sie eigentlich lieber an ihrer Dissertation schreiben will, zwingt sie sich zur Teilnahme an einer sogenannten Babyshower-Party. Zweifel plagen sie. Sinnfragen martern sie. In den nächsten Tagen und Wochen intensiviert sie ihre Arbeit an der Doktorarbeit. Den Haushalt vernachlässigt sie. Sie denkt, »sie könne Tom mit Wäschestreik unter Handlungsdruck setzen, aber sie hat sich geirrt«. Was bleibt, ist die Frage, warum sich ihr so wenig helfende Hände entgegenstrecken.
Für Agressor_innen die kalte SchulterDie gleiche Frage treibt auch Diehl um. Die Uhr, die nicht tickt, 2014 erstmals publiziert, hat sie zu einem zwanzigminütigen Vortrag komprimiert. Als Impulse, das Buch zu schreiben, identifiziert sie primär Erlebnisse ihres persönlichen Umfelds. Diese kennzeichneten, dass ab einem Alter von dreißig Jahren Probleme anfingen: Debatten, wer die Haushaltsarbeit zu erledigen habe, endeten zuungunsten der Frauen; ferner neigten letztere dazu, geschlechtsspezifische Zuschreibungen in ihre Selbstbilder zu integrieren. Druck werde ausgeübt, weil mit Emanzipation das Potenzial einhergehe, die bisherige Praxis unentgeltlicher Haushaltsarbeit umzuwälzen. Ein »wichtiger ökonomischer Pfeiler« drohe zu schwinden. Um wirtschaftliche Interessen zu vertuschen, werde das Märchen von der biologischen Determination von Frauen, aufgrund derer sie zum Kinderwunsch prädestiniert seien, kolportiert. Frauen würden gar zu Opfern vermeintliche Naturgesetze konterkarierender Emanzipation verklärt.
Was Diehl damit andeutet, befindet sich derzeit als Phänomen namens Maskulinismus in einer Konsolidierungsphase: Mannigfaltig genutzt werden die Möglichkeiten, Antipathie gegen Feminist_innen als Forentroll auszuleben, auf Blogs Verschwörungsideen in die Welt zu posaunen, Lehrenden der Gender Studies die Kompetenz abzusprechen oder sie zu bedrohen. Sowohl Klemm als auch Diehl deuten an, schon selbst derart angefeindet worden zu sein. An diesem Abend zeigen sie Agressor_innen die kalte Schulter. Auszugehen ist aber davon, dass das Thema mit dem Erstarken konservativer bis rechtsoffener Kräfte so bald nicht vom Tisch sein wird.
Göttinger UsusDer historische Abriss vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit bis in die Gegenwart, mit dem Diehl in ihrem Buch die »Mär vom Mutterinstinkt« beleuchtet, fällt knapp aus. Die Genese von »Mütter-Mythen« gerät aus dem Blickfeld. Im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin Dorothee Kimmich aus Tübingen bewerben Diehl sowie Klemm ein Engagement gegen altbackene Familienentwürfe. Neben entsprechendem Bewusstsein müssten Anreize gestärkt werden, Männer intensiver in die Arbeit im Haushalt zu involvieren.
Eine seitens des Göttinger Tageblatts prophezeite Kontroverse bleibt aus. Bereits vor Beginn der Lesung hatte Kimmich das Potenzial zur Polarisierung entschärft. Sie warb für eine Fokussierung auf Ambivalenzen. Beiden Autorinnen fehlt es nicht an Motivation, solche sichtbar zu machen. An Glut, um den Funken auf die Gäste überspringen zu lassen, mangelt es eigentlich ebenso wenig. Leider erweisen sich die Göttinger_innen an diesem Abend als wenig diskussionsfreudig. Begründet wird das aus dem Publikum heraus mit dem Einwand, Göttingen sei mit dem Thema schon lange vertraut.