Der Duden definiert die »Nacht« schlicht als »Zeitraum etwa zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang«. Für Schriftsteller bedeutete sie jedoch schon immer mehr als das: Novalis, Bonaventura und Konsorten beschrieben die Nacht in Gedichten, besangen sie in Hymnen und wagten den Versuch, ihre Faszination für die stille Dunkelheit in Worte zu fassen. In ihre Tradition stellt sich nun auch Tim Krohn. In seiner Kurzgeschichten-Sammlung Nachts in Vals zeigt der deutsche Exilschweizer, wie sich das Leben eines Menschen in nur einer Nacht für immer ändern kann. Gebührt ihm dafür ein Platz in der Reihe der poetischen Nachtwächter?
Von Julian Ingelmann
»Wer nach Vals reist, wird Entspannung und Erholung finden« – das versichert jedenfalls eine Website über das beschauliche 1000-Seelen-Bergdorf im schweizerischen Kanton Graubünden. Für die Protagonisten des Erzählbands Nachts in Vals gestaltet sich der Aufenthalt in der Postkartenlandschaft jedoch alles andere als entspannend und erholsam. Tim Krohn schickt seine Protagonisten in die Idylle, um ihnen schwere Prüfungen aufzuerlegen. In einer literarischen Entdeckungsreise möchte er erkunden, was eigentlich in einer Touristenhochburg passiert, wenn die Sonne untergegangen ist. Diese Grundidee birgt viel Potenzial für spannende Geschichten, schließlich kommen in der Therme Vals, dem ersten Hotel am Platz, die unterschiedlichsten Menschen zusammen: Reiche Unternehmer, die jeden Blick für Luxus längst verloren haben, treffen auf junge Abiturienten, die sich nur ein einziges Mal dem Wohlstand nahe fühlen wollen. Das Hotelpersonal, das zwischen den Gästen herumschleicht, verschwindet fast im Pomp des Urlaubsparadieses. Und doch erleben auch die Angestellten allerhand Erzählenswertes.
Erzählerischer coitus interruptusSo etwa der Trompeter Valentin Casutt, von dem die Erzählung Helle Nacht berichtet. Er arbeitet als Barmusiker im Hotel Therme und unterhält dort die Zuhörer mit seinem Spiel. Nur er selbst kann sich für seine Musik nicht mehr so recht begeistern. Der allabendliche Standardauftritt vor einem uninteressierten Publikum raubt ihm die Leidenschaft für sein Instrument. Das ändert sich erst, als er einen neuen Probeort für sich entdeckt: Der schalldichte Maschinenraum des Hotels eignet sich perfekt für nächtliche Übungssessions, obwohl – oder gerade weil – es in ihm »pumpt, surrt, zischt, gurgelt und stampft.« In dieser unwirtlichen Atmosphäre gelingt es Valentin, die Liebe zu seinem Instrument wiederzuentdecken und einen eigenen Stil zu finden. Hotelgäste und Mitmusiker reagieren beeindruckt – und dann endet die Geschichte ganz plötzlich:
An dieser Stelle möchte man als Leser das Buch schließen und den Klappentext inspizieren: Hat man es etwa unbemerkt mit der Parodie einer hollywoodesken Künstlergeschichte zu tun bekommen? Einzelne Sätze, die Ozeane überbrücken und Kontinente durchqueren; Wörter, die ganze Jahre auf wenige Buchstaben verkürzen; die Art und Weise, wie spannende Szenen und lebensverändernde Momente einfach beiseite geworfen werden – das kann doch unmöglich ernst gemeint sein? Doch diese gehetzte Abruptheit ist typisch für Krohns Erzählungen. Der deutsche Exilschweizer pflegt den erzählerischen coitus interruptus. Er hält sich nicht mit Erklärungen auf, sondern stürmt durch die Konsequenzen seiner Geschichten – und lässt seine Leser ratlos zurück.
Tell, don’t showWas man Hobbyautorinnen und Creative-Writing-Studierenden seit Jahrzehnten beizubringen versucht, scheint Krohn bewusst zu ignorieren: Er wendet das Prinzip ›Show, don’t tell‹ ins Gegenteil und beschreibt interessante Passagen lieber in knappen Sätzen, als sie dem Leser direkt vor Augen zu führen. So erwecken die Erzählungen oft einen skizzenhaften Eindruck, als wären sie versehentlich schon im Entwurfsstadium publiziert worden. Das wirkt mal gelungen minimalistisch, meist jedoch eher unbeholfen. Der Leser ärgert sich über das verschenkte Potenzial und ist geneigt, selbst einen Bleistift in die Hand zu nehmen und die beschriebenen Szenen wortreich mit Leben zu füllen. Das täte auch den flachen Figuren gut, die in der unbearbeiteten Fassung selten genügend Konturen besitzen, um das Interesse des Lesers zu wecken. Zudem kratzen einige Szenen haarscharf an der Grenze zum Kitsch. Wenn etwa die schwangere Protagonistin in Strahlende Nacht beim Anblick des nächtlichen Sternenhimmels lernt, ihr noch ungeborenes Kind zu akzeptieren und dadurch ihre innere Wärme wiederfindet, dann ruft das eher ein belustigtes Grinsen hervor als ergriffene Emotionalität.
Hin und wieder bricht Krohn jedoch mit seinem eigenen Grundsatz und gewährt mit pointierten Dialogen einen aufschlussreichen Einblick in die Psyche seiner Figuren. In diesen Momenten scheint durch, was der diesjährige Bachmannpreis-Teilnehmer eigentlich kann. Einen Lichtblick stellt beispielsweise die Erzählung Schwarze Nacht dar. Sie handelt von Vanessa und Sven, die während ihres Aufenthalts in Vals feststellen, dass sie es nicht mehr miteinander aushalten. Diesen Moment der Erkenntnis weiß Krohn eindrucksvoll in Szene zu setzen:
Nun erst, in jener schlaflosen Nacht im Hotel, erinnerte er all die früheren Valser Nächte, in denen er für Vanessa da gewesen war, in denen er sie getröstet und ihr Mut zugesprochen hatte, in denen er ausgehalten hatte, dass sie schreiend aufschoss und sich an ihn klammerte. Ihm wurde bewusst, dass er tatsächlich nur noch ihrer Ängste, ihrer Depression, ihrer Haltlosigkeit wegen bei ihr war. Er war geblieben, weil er glaubte, es sich nicht verzeihen zu können, wenn sie sich etwas antat. Und Vanessa wusste das nicht nur, sie benutzte ihre Ängste, um ihn zu halten. Es war gegen drei Uhr nachts, als er sich aus ihrer Umarmung löste, das Licht anmachte und sagte: »Geh.«
Und auch in der Geschichte Klare Nacht zeigt Krohn die eigentliche Qualität seiner Ideen. Der oberflächliche Finanzhai Marc, der seine Urlaubsbegleitung für gewöhnlich nur mit Blick auf deren gesellschaftlichen Stand aussucht, verliebt sich plötzlich und gegen seinen Willen in die einfache Angestellte Slavka. Die Prämisse ist simpel, doch der Text ist von einer subtilen Erotik durchdrungen und die Figuren sind facettenreich gezeichnet.
Mit seinen sieben anderen Geschichten hätte Krohn jedoch lieber im Hotel Therme bleiben sollen. Dort hat er mit den vorliegenden Erzählungen nächtliche Lesungen veranstaltet. Dafür hat er Gäste auf ihren Zimmern besucht und sie zwischen den verschiedenen Geschichten auswählen lassen. Leider fällt es der unbeteiligten Leserin nur allzu deutlich auf, dass die Texte für genau diesen Zweck geschrieben worden sind. Denn letztlich ist das Buch wenig mehr als eine Hommage des Autors an einen idyllischen Urlaubsort, an dessen Bewohner und Besucher. Alle anderen können Nachts in Vals beruhigt in der Buchhandlung liegenlassen.