Chunibyo, Achtklässler-Syndrom, magische Fähigkeiten: Aufregend ist, was fremd erscheint. In der Anime-Serie Love, Chunibyo & Other Delusions! treffen ZuschauerInnen auf die phantastische Umsetzung von prägnanten Merkmalen der japanischen Kultur.
Von Natalie Zdzuj
Mit den Worten »Eine Hommage an die Otaku-Kultur« präsentierte KAZÉ, das größte deutschsprachige Anime-DVD-Label, im Oktober 2015 die Serie Love, Chunibyo & Other Delusions!. Die Otaku-Kultur zeichnet sich durch das prominenteste, vornehmlich auf die männliche Zielgruppe ausgerichtete Medienmotiv »moe« aus. Abgeleitet von dem Verb »moeru« (»glühen«, »lodern«, »anhimmeln«) versteht man allgemein unter diesem Begriff eine Leidenschaft für Medienfiguren, hauptsächlich Mädchengestalten aus Manga, Anime und Games, die Merkmale der Niedlichkeit aufweisen und skurrile Verhaltensweisen beinhalten. In der Serie Love, Chunibyo & Other Delusions! wird solch eine Figur vertreten durch Rikka Takanashi, die sich ähnlich wie Otakus virtuelle Welten schafft und sich leidenschaftlich für übernatürliche Kräfte interessiert.
Die Anime-Serie gibt Einblicke in die Zeit des Heranwachsens, in der eine Flucht in Phantasie und Parallelwelten hilfreich sein kann. Die Serie mit den erwähnten moe-Merkmalen und einer hohen Animationsqualität sowie ausgefeiltem Charakterdesign richtet sich an junge Erwachsene und bietet eine erheiternde Erzählung mit einer ausgefallenen Kombination aus romantischer Komödie und dem Motiv des »Chunibyo«. Der Begriff »Chunibyo« setzt sich ursprünglich aus den japanischen Wörtern »chuugakkou ni-nen« und »byou« zusammen, was auf Englisch mit »second year of middle school« und »sickness« übersetzt werden kann. In der deutschen Übersetzung des Animes wird von dem »Achtklässler-Syndrom« gesprochen, da die zweite Klasse der Mittelschule ungefähr der achten Klasse in Japan entspricht. Es gibt drei Typen des Chunibyo1. In der Anime-Serie geht es hauptsächlich um das »Evil Eye« (»jakigan-kei«) – um Personen, die mystische Kräfte bewundern und zudem davon überzeugt sind, ebenfalls eine verborgene übernatürliche Macht zu besitzen. Dieser Chunibyo-Typ wird auch als »täuschender Typ« bezeichnet, da er sich ein Pseudonym erdenkt, welches gleichzeitig ausdrückt, über welche Kräfte er verfügt.
In der Serie Love, Chunibyo & Other Delusions! nun wird das alltägliche Schulleben des Hauptcharakters Yuuta Togashi durch Rikka Takanashis Achtklässler-Syndroms ganz schön aufgemischt. Yuuta selbst litt damals am Achtklässler-Syndrom. Jetzt, in der Oberstufe, wo ihn niemand kennt, will er endlich ein ganz normaler Schüler sein und seine peinliche Vergangenheit, in der er innerhalb seiner eigenen Fantasiewelt ein Paralleleben als »Dark Flame Master« führte, hinter sich lassen. Dieses Vorhaben ist allerdings nur solange bedeutsam, bis er auf Rikka trifft; sie entdeckt Yuutas Geheimnis und bringt ihn dazu, einen Pakt mit ihr zu schließen, bei dem er erneut mit dem Syndrom in Kontakt kommt und in ihre verrückte Fantasie miteinbezogen wird.
Zu Serienbeginn liegt der Schwerpunkt auf komischen Elementen, die eine Leichtigkeit des Themas vermitteln und vorschnell zu dem Schluss kommen lassen, dass der Unterhaltungswert an vorderster Stelle stünde; beispielsweise wenn Rikka ihre gesamte Umwelt in ihre Fantasiewelt einbindet, ja sogar Tomaten, die sie nicht ausstehen kann, als »magieverringernde Eier des Teufels« bezeichnet. Ab Folge sechs jedoch gibt es eine unerwartete Wendung: Neben der aufkommenden romantischen Komponente stellt sich die Frage, warum Rikka auch noch in der Oberschule vom Achtklässler-Syndrom betroffen ist. Nur so viel sei an dieser Stelle gesagt: Die Ausprägung ihres Syndroms fußt auf einer positiven Realitätsflucht bzw. -bewältigung. Ihr Umfeld steht vor der schwierigen Entscheidung, ob Rikka zur Vernunft gebracht oder ihre Begeisterung für ihre eigene Fantasiewelt gefördert werden sollte, indem man sich miteinbeziehen lässt. Oder sollte man diese Phase der Persönlichkeitsentwicklung auslöschen? Ist sie etwas Bedrohliches oder zeichnet sie ein Individuum aus?
Ursachen des Syndroms – Bedeutung für die japanische Manga-KulturIn der Anime- und Manga-Kultur werden häufig Themenmotive der Obsession oder der Ausgrenzung behandelt; die Figur des Otakus, des leidenschaftlichen Fans, und des »Hikikomori«, bei dem die Leidenschaft zu einem extremen Rückzug aus der Gesellschaft und Isolation führt, sind hier nur zwei Beispiele. Durch den früh vermittelten Perfektionismus, der in der japanischen Kultur durch eine hohe Erwartungshaltung und strenge gesellschaftliche und institutionelle Regeln auferlegt wird, werden Jugendliche oftmals mit Versagensängsten konfrontiert, es bildet sich eine Haltung heraus, in der es eine tiefe Spaltung zwischen den sichtbaren Handlungen und den inneren Gefühlswelten gibt. Jugendliche haben Schwierigkeiten, ihre Identität zu definieren und sich in den strengen Regeln und Hierarchien wiederzufinden. Außenseiter und Individualisten haben es besonders schwer in der japanischen Kultur, da sie nicht den traditionellen Werten und der festen Rollenverteilung innerhalb der Familie und Gesellschaft entsprechen. Zwanghaft werden diese Werte auf die jungen Erwachsenen übertragen, sodass diese den inneren Ausbruch benötigen, um einen Platz für sich als Individuum mit eigenen Besonderheiten zu finden. Im Kontrast dazu steht die westliche Welt, die Individualität und Unabhängigkeit fördert und Möglichkeiten bietet, die eigenen Wünsche, Vorstellungen und Fähigkeiten zu äußern und umzusetzen. Japanischen Jugendlichen hingegen bleibt oft auf der Suche nach der eigenen Identität, einem Sinn und einem Ziel nur sozialer Rückzug, der meistens ein ernsthaftes Krankheitssymptom nach sich zieht.2 Eine Zusammenfassung über das Phänomen bietet die Studie Hikikomania: Existential Horror or National Malaise? von Evan Correy.
Mittels des Chunibyo wird in der vorgestellten Serie eine Form aufgezeigt, wie Jugendliche Individualität entwickeln und ausleben und mit den unbewältigten inneren Konflikten im Alltag umgehen können. Eingerahmt in Normalität (Schulbesuche, Treffen mit Freunden) agieren die Protagonisten wie Helden, die ihr Haus mit einem Schwert verlassen und davon überzeugt sind, mächtige Flammen zu beherrschen, mit denen sie die Welt erobern wollen oder versuchen, automatische U-Bahn-Türen aufzuzaubern. Im Gegensatz zum beschriebenen Typus des Hikikomori zeichnen die hier agierenden Figuren sich durch ein übersteigertes Selbstbewusstsein aus, trotzdem sind sie meist allein, weil sie sich aufgrund ihres Anders-Seins nur bedingt in gängige Gruppenkonstellationen einfügen können.
Aus den hier geschilderten Phänomenen speist sich auch die Chunibyo-Kultur, in der jemand populäre Personen (oder Kulturen) zu Vorbildern erklärt und beginnt, sich wie diese zu verhalten und deren besondere Merkmale zu übernehmen (Kleidung, physische Merkmale, Persönlichkeitszüge etc.); in der Psychologie ist dieses Verhalten unter dem Stichwort »Identifikation«3 bekannt. Ein weiterer Punkt, der sich vor allem auch in der beschriebenen Serie zeigt, ist das Bestreben, nicht erwachsen werden zu wollen, um nicht mit der Realität konfrontiert zu werden. Einige Charaktere sind noch nicht bereit dafür und brechen aus ihren vorgegebenen Rollen als verantwortungsvolle Erwachsene, die die Realität akzeptieren müssen, heraus. Der Aspekt der Individualität und Besonderheit wird dadurch bedeutsam, indem sie ihre kindliche Unbeschwertheit und Fantasie ausleben, die viele Erwachsene verloren haben.