Schonungslos, intensiv und ehrlich. Die neueste Produktion Schattenboxer der freien Theatergruppe boat people projekt erzählt die Geschichte eines jungen Boxers, der während des Apartheidsregimes in Südafrika aufgewachsen ist und nun versucht, gegen die Schatten seiner Vergangenheit anzukämpfen.
Von Birte Müchler
Das Unfassbare fassbar machen – auch das ist eine Aufgabe, der sich die Institution Theater immer wieder stellen muss. Im modernen Theaterbetrieb wird von Autor und Regisseur immer wieder erwartet, sich mit ihrem Stück und ihrer Interpretation deutlich zu positionieren: Theater als Unterhaltungsbetrieb oder Stätte der Verinnerlichung, als moralische Anstalt, als Institution mit aufklärerischem Bildungsauftrag? Schattenboxer ist eine jener Inszenierungen, die zeigt, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, sich zu dieser Debatte zu positionieren.
Es ist eine andere Welt, in die man eintaucht, sobald man die derzeitige Spielstätte des boat people projekt betritt. Die Cheltenham Passage steht seit Jahren leer. Ein beinahe trauriger Anblick, leere Geschäftsräume, zugeklebte Fenster, wenig Licht. Ein Flecken Geisterstadt, nur einen Katzensprung entfernt von dem lebendigen Innenstadtleben – von dem Treiben des Wilhelmplatzes und der Jüdenstraße. Am Rande der Göttinger Einkaufsmeile ist es, wo dieser Theaterabend stattfindet. Es ist beinahe zynisch, dass dieser Ort für dieses Stück dient, welches sich inhaltlich und örtlich meilenweit entfernt von der westlichen Konsumgesellschaft entwickelt.
Wahrhafte ErinnerungenDie freie Theatergruppe boat people projekt hat ihren Schwerpunkt auf das Thema Flucht und Migration gesetzt. An der Schnittstelle von Kultur und Politik wird es möglich, den Alltag von Asylsuchenden, von Heimatlosen und Geflohenen laut werden zu lassen, und in das Blickfeld einer behüteten Lebenswelt wie des Göttinger Provinzstädtchen zu bringen. Die Theaterarbeit des Projekts bringt Flüchtlinge, Migranten und lokale Kulturschaffende zusammen. Dabei stehen sowohl Laien als auch professionelle Schauspieler auf der Bühne.
Unter diesem Label werden seit 2009 Theaterstücke mit einem gemischten Ensemble inszeniert, zu dem Flüchtlinge und Kunstschaffende aus den Bereichen Schauspiel, Musik und Tanz gehören. Der Name boat people projekt (bpp) steht programmatisch für die Arbeit des Teams. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Flucht und Flüchtenden steht im Mittelpunkt der Theaterproduktionen. Die Stücke sind politisch, weil sie konkrete Ereignisse und Geschichten von Flüchtenden erzählen, sie sind poetisch, weil das dokumentarische Material zu einer Fiktion verdichtet wird.
Es sind die 80er Jahre. Südafrika erleidet Bürgerkrieg und gewaltsame Unruhen unter dem Apartheidsregime. Schon vor dieser Zeit wurden Generationen von schwarzen Menschen verfolgt, gedemütigt und in ihrer politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Anteilnahme unterdrückt. Das Stück zeigt in mehreren Episoden ein Einzelschicksal, das sich in seinem Urwesen in der Geschichte hundertfach, in Spiralen, immer und immer wiederholt haben könnte.
Aufbegehren gegen das VergessenIn dieses große Bild tritt ein schwarzer, junger, erfolgversprechender Boxer ein, gespielt von Mdluli. Schon als Kind war er beteiligt an den Straßenkämpfen in den Townships von Südafrika. Für ihn war es keine Ausnahme – dieser Schrecken, als er als Kind gejagt wurde und neben ihm auf der Straße seine Freunde beim unschuldigen Spiel niedergeschossen wurden, niedergestreckt und hingerichtet – es war der Alltag.
Später, nachdem das Apartheidsregime 1994 endlich aufgelöst wurde, wanderte er als erfolgreicher Sportler nach Europa aus. Er versuchte die Erinnerungen an seine Jugend zu tilgen. Doch die Finsternis seiner Vergangenheit, sein junges Alter Ego holt ihn bald ein. Als personalisierter Schatten begehrt Dlamini gegen das Vergessen auf und lässt dem Protagonisten keine Ruhe, bis dieser sich wieder erinnert und sich seiner Herkunft und seiner Geschichte stellt.
Das Spiel ist intensiv, Dlamini und Mdluli sind beeindruckende Schauspieler. Sie bewegen sich wild und kraftvoll auf dieser grauen Bühne, die nichts anderes bereithält außer einer grauen Leinwand, einem einzelnen Autoreifen und signalroter Boxhandschuhe. Sie sind wie in Trance, es wird gekämpft und geschwitzt, sie tanzen und singen, schreien die Verzweiflung, die Wut, all den Schmerz heraus. Dann sind sie wieder still, konzentriert und kontrolliert, wenn sie Geschichten erzählen von all der Gewalt: Von der Schlacht bei Isandlwana, dem Krieg zwischen dem Zululand in Südafrika und dem British Empire im Jahr 1879; vom Massaker von Voortrekkers im Jahr 1838, bei dem niederländische Immigranten vom Zulukönig Dingane getötet wurden. Dann erzählen sie von den Anfängen der Apartheid, vom offenen Rassismus in der eigenen Heimat und der staatlich propagierten Kriminalität, von Korruption, Mord und Verrat. Und von Pieter Willem Botha, dem Staatspräsidenten Südafrikas zwischen 1984 und 1989, der die Gesetze der Apartheid verschärfte und seine politischen Gegner hartnäckig verfolgte; dessen Ziel es war, die weiße Herrschaft in Südafrika nach innen und außen dauerhaft zu stabilisieren.
Und dann gehen sie immer wieder zurück in die Kindheit des jungen Boxers, der vor der Polizei fliehen muss. Der die Leiche seines durch Polizisten getöteten Bruders findet und dabei immer wieder die Stimme des weißen Präsidenten im Ohr hat, die von der Vision erzählt, die schwarze Bevölkerung zu eliminieren.
Multimedial bis ins MarkAll dies geschieht in den Sprachen Englisch und Zulu und wird begleitet durch Textprojektionen, die dem Publikum immer wieder Übersetzungen sowie Daten und Orte, aber auch Zitate und prägnante sprachliche Ausdrücke vor Augen halten.
Beeindruckend und stimmungsvoll, manchmal bedrohlich unterlegt eine kleine Liveband im Hintergrund das Geschehen mit Musik: Hans Kaul am Piano, Lucile Chaubard am Cello und Reimar de la Chevallerie am Laptop.
Was das Göttinger Publikum hier erlebt, ist so intensiv, so intim und schonungslos, dass man zwischenzeitlich geneigt ist, sich zu vergewissern, wo man sich in Wirklichkeit befindet. Markerschütternd, jedoch nicht ohne Witz erzählen die beiden Männer mit Körper und Stimme von ihrem Schicksal – Es ist zugleich das Schicksal tausender anderen Menschen.
Es kann nicht genug gesagt werden, wie wichtig dieser Tage Stücke dieser Art sind. Wie wichtig es ist, Kultur aufrecht zu erhalten und Themen in unsere Mitte zu bringen, die wir sonst nur am Rand unser Wahrnehmung erkennen, weil sie uns kaum tangieren. Dieser Theaterabend ist ein Erlebnis, das sich von sonstigen Theaterbesuch abhebt und gerade deshalb so wertvoll ist, weil es Geschehnisse und Taten ausdrückbar macht, die wir viel zu häufig vergessen wollen.