Was zuerst als das Zusammentreffen von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten im Glauben an den Frieden beginnt, wächst sich zu genau dem aus, was es nicht sein will: rasende Gewalt, die wie eine Naturkatastrophe das China des 18. Jahrhunderts überzieht.
Von Joana Kolbach
Die drei Sprünge des Wang-lun gehört zu den frühen Werken Alfred Döblins. Erstmals erschien der Roman 1915/16. Mittlerweile erscheint er in der Reihe Fischer Klassik. Der Band ist mit einem umfangreichen Anhang versehen, der eine editorische Notiz, biographische und bibliographische Angaben zu Alfred Döblin und seinen Werken sowie ein ausführliches Nachwort von Gabriele Sander enthält.
Der Roman selbst beginnt mit der »Zueignung«, einer Art Prolog, die nicht direkt in die Erzählung einführt, sondern Döblins Gedanken präsentiert. Die Handlung an sich ist in vier Bücher mit den wohlklingenden Titeln »Wang-lun«, »Die Gebrochene Melone«, »Der Herr der Gelben Erde« und »Das Westliche Paradies« aufgeteilt. Diese Kapitel strukturieren den Text und markieren gleichzeitig die einzelnen Etappen, die der Protagonist Wang-lun, Sohn eines chinesischen Fischers, durchläuft. Zu Beginn der Geschichte, die im China des 18. Jahrhunderts spielt, ist Wang-lun ein fauler Tunichtgut der schlimmsten Sorte, der sich mit Räubereien und anderen Verbrechen über Wasser hält.
»Wang-lun wuchs heran, gewandt und riesenstark. Unter seiner Rohheit und Hinterlist hatten Esel, Hunde, Fische und Menschen zu leiden.«
Dann jedoch trifft er auf den Mönch Ma-noh, der ihm die Lehre des Wu-wei nahebringt. Das prägt den jungen Mann so sehr, dass er sein altes Leben abstreift wie ein Kleidungsstück und die Lehren des Mönchs gleichsam als neues Gewand anlegt. Er begründet eine Bewegung, die »Wahrhaft Schwachen«, die sich dem friedfertigen Widerstand verschreibt. Ein Oxymoron wie es scheint, das zu Anfang jedoch aufgeht. Der chinesische Kaiser schenkt der Bewegung kaum Beachtung und die Mitglieder, die aus allen Schichten der Gesellschaft kommen, leben in Frieden beisammen, worin sich auch die pazifistische Natur ihres Nicht-Widerstrebens zeigt. Als die Bewegung jedoch zu groß wird und den Kaiser in seiner Autorität gefährdet, wird es blutig. Wang-lun als Vater der Bewegung trägt die Verantwortung – er muss sich entscheiden und kommt zu dem Schluss, dass er seine eigenen Ideale verraten muss, um die der anderen zu schützen. Er greift zum Schwert, obwohl dies allem widerspricht, wofür die Bewegung steht.
»Wang-lun hatte sich erhoben mit seinem langen Schlachtschwert, in der Nacht das Lager seiner ehemaligen Brüder verlassen.«
Döblin nimmt uns behutsam an die Hand, führt uns in die Welt seiner Charaktere, zeigt uns ihre Sorgen und Nöte. Er spinnt ein dichtes Gewebe aus Beziehungen, das teilweise jedoch ein wenig unübersichtlich ist. Aus Einzelschicksalen – besonders aus dem Verhältnis von Wang-lun und Ma-noh – erwächst etwas Größeres, Umfassenderes, das letztendlich alles zerstört, wofür Wang-lun eintritt. Döblin verbindet dabei kunstvoll das Große mit dem Kleinen, das Schöne mit dem Hässlichen. Gewalt und Gemeinschaft gehen Hand in Hand – zeichnet er doch das Bild einer friedlichen Bewegung, die zwar reizen will, aber nicht bis aufs Blut, welches letztendlich dennoch fließt. Wang-lun muss erkennen, dass seine Bewegung zusehends ein Eigenleben entwickelt hat, über das er die Kontrolle verliert. Er kann sich nur den Wendungen anpassen, die wie hakenschlagende Hasen auf alle Beteiligten einwirken – am meisten auf ihn selbst. Er muss sich diesen Wendungen fügen, ist jedoch gleichzeitig das Vorbild seiner Anhänger. Zerrissen zwischen dem, der er sein will und dem, der er sein muss, steht er vor schwierigen Entscheidungen, deren Konsequenzen Döblin in all ihrer Grausamkeit vor dem Leser ausbreitet.
Der Roman endet mit einer Sentenz, stellvertretend für das durchlebte Leid:
»Stille sein, nicht widerstreben, kann ich es denn?«
Wang-lun kann nicht stille sein. Er widerstrebt, wo er nur kann, um zu schützen, was ihm so viel bedeutet. Die Ideale des friedfertigen Widerstands sind ihm so heilig, dass er gewillt ist, mit ihnen zu brechen, nur um sie aufrecht zu erhalten. Döblin präsentiert uns damit einen Roman voller Widersprüche und Gewalt, der die Charaktere in die Ecke treibt. Und der Leser mittendrin. Seine detailverliebten Beschreibungen lassen die staubige Erde, die Hitze, die Leiber des Widerstands spüren. Geradezu besessen von jedem noch so kleinen Detail zeichnet Döblin das lebendige Bild einer Widerstandsbewegung im damals fernen China, das dem Leser auf einmal gar nicht mehr so fern ist. Allzu menschliche, nachvollziehbare Regungen sind es, die das Handeln der Figuren prägen.
Diese Beziehungen, die unausgesprochenen Worte, ihre Liebe, ihr Hass machen den Roman zu einer Geschichte, dem man sich schwer entziehen kann. Und folgt man dem unlängst verstorbenen Günther Grass, der feststellte, dass Döblins Werk »in der […] Zeit des Terrorismus« ungeheuer aktuell sei, so hat sich dies bis heute nicht geändert, sondern eher noch bestätigt. Döblin zeigt eine Bewegung, die eine unkontrollierbare Eigendynamik entwickelt, weil sich deren Akteure zusehends verlieren.