Jocelyne Sauciers Niemals ohne sie erzählt von einer Großfamilie, die ohne Gesetze leben möchte und noch Jahrzehnte später an diesem Vorhaben scheitert. Dabei geht es nicht nur um Schuld, sondern auch um die Lehre, dass selbst Anarchie ihre Spielregeln hat.
Von Alma Katarina Landsberger
Es gibt Familien, die sind so groß, dass sie eigentlich gar keinen Platz für richtige Geborgenheit bieten. Dieser Überlegung müssen sich alle stellen, die es mit den Cardinals in Niemals ohne sie zu tun bekommen. Mit einer stolzen Besetzung aus 23 Leuten haben sie ihr Reich in den 1960ern in der kanadischen Bergbaustadt Norco errichtet: Eine Welt, die nach ihren Regeln lebt. Allen voran der Drang nach Einzigartigkeit:
Wir sind wie niemand sonst, wir haben uns selbst erschaffen, die einzigen unserer Art.
Sie sind eine Familie aus Rebellen und Anti-Helden, die ihren Herrschaftssitz in dem kleinsten, baufälligsten Haus von ganz Norco errichtet haben. Die Grenzen des Dorfes sind gleichzeitig auch Grenzen einer Welt, die von den Cardinals eigenhändig geschaffen und zerstört wurde.
Niemals ohne sie (Orig. Les héritiers de la mine) erschien 1999 als zweiter Roman von Jocelyn Saucier und erzählt die Geschichte dieser selbsternannten »Könige von Norco«. Anfang 2019 wurde der Roman nun von Sonja Finck und Frank Weigand ins Deutsche übersetzt.
Die Cardinals sind seit jeher das Urgestein des Dorfes, die unbezwingbaren Herrscher, seitdem Familienoberhaupt Albert Cardinal ein Zinkvorkommen entdeckte und somit die örtliche Mine ins Leben rief. Unter seinen 21 Kindern wird er als Heiliger verehrt: »Ich zitterte vor Aufregung, wenn er
Währenddessen stellen die Kinder ihre eigenen Regeln auf und erziehen sich selbst. Unter den restlichen Dorfbewohner*innen sind sie als Unruhestifter*innen und Wahnsinnige bekannt, die durch ständige Schlägereien und grenzwertige Streiche verhasst wie gefürchtet sind. Als sich die Familie schließlich von dem Konzern Northern Consolidated um ihre ergiebige Mine betrogen sieht, beschließen die 21 Cardinal-Kinder, ihr Reich mit allen Mitteln zu verteidigen – und werden sich in ihrer Tyrannei selbst zum Verhängnis.
Erst Jahrzehnte später kommen sie alle wieder zusammen – ausgerechnet auf einem Erzsucherkongress, bei dem ihr Vater ausgezeichnet werden soll. Dabei müssen sich die Geschwister dem stellen, was sie seit Norco zu leugnen versuchen: Eine von ihnen fehlt. »›Einundzwanzig, und alle leben.‹ Der Blick unseres Vaters erstarrte in einem fixen Punkt. Ich drehte mich um. Meine Brüder, meine Schwestern, meine Mutter. Alle mit demselben leeren Blick.«
Die Nostalgie des SchuldgefühlsIn dem Hotel, in dem die Ehrung des Vaters stattfinden soll, erinnern sich sechs seiner Kinder besonders stark an ihre Jugend. Autorin Saucier lässt ihre Leser*innen durch die Augen der Geschwister zurück in die Vergangenheit blicken, während diese das Verschwinden von Angèle erforschen: Der einzigen Cardinal, die sich über die selbstauferlegten Regeln ihrer Familie hinwegsetzte. Durch scheinbar willkürlich wechselnde Perspektiven gelingt es Saucier dabei, die ambivalente Stimmung ihres Romans umso mehr hervorzuheben. Jede*r ihrer sechs Protagonist*innen erinnert sich mit einem ganz eigenen Erzählstil an die Vergangenheit, wobei sich die Geschwister nicht nur in ihrer Moral, sondern auch in ihrer Ausdrucksweise ganz unerwartet voneinander abgrenzen.
Hinter den Cardinals steckt das hochemotionale Zeugnis einer herrschaftslosen Gesellschaft, die mit ihrem Streben nach Freiheit die Welt erobern will. Doch die Grenzen dieser Welt reichen auch Jahrzehnte später nicht über die Straßen von Norco hinaus. Selbst als sich die Geschwister in alle Himmelsrichtungen zerstreuen. So fristet Angèles Zwillingsschwester, mit Kosenamen »Tommy« genannt, ihr Leben heute zurückgezogen in Alaska, und den früheren Anführer der Familien-Anarchie »Geronimo« hat es als Kriegsarzt sogar bis nach Aserbaidschan verschlagen. Doch ihr Leben dreht sich auch dort mit jedem Schritt nur um die Vergangenheit in der kleinen, kanadischen Bergbaustadt.
Wo auch immer ich hingehe, Tommy ist schon da, auf der Rückbank meines alten Studebaker, und schreit aus tiefster Seele: ›Warum hast du es nicht verhindert?‹ Es ist der Schrei meines Gewissens. In Wirklichkeit sagte sie bis zur überdachten Brücke kein Wort.
Mit ihren Erinnerungen werfen die Geschwister immer neue Lichter auf das Geheimnis um Angèle – und hüllen dadurch die unbeschwerte Kindheit aller Cardinals in einen Schatten, der in ihrer latenten Unwissenheit nur umso düsterer erscheint. Die Erzählstrategie von Saucier beeindruckt hier vor allem dadurch, dass es weniger um das Verschwinden der Schwester an sich als vielmehr um die genauen Umstände drumherum geht, zu denen jeder der sechs Cardinals seinen Beitrag geleistet hat. Von der ersten Seite an wirft das Buch Fragen auf, die sich erst mit seinen letzten Sätzen wirklich beantworten lassen.
Die Regeln der GesetzlosenWährenddessen zieht Niemals ohne sie seine Leser*innen ganz unaufdringlich in seinen Bann. Statt einem klassischen Spannungsbogen zu folgen, lebt der Roman von den verwobenen, manchmal auch unstrukturierten Erinnerungen der Geschwister und einem beeindruckend lyrischen Schreibstil von Saucier. Vor allem die ganz eigene, familieninterne Sprechweise erhält sich durch die erfindungsreiche Übersetzungsarbeit von Sonja Finck und Frank Weigand auch in den poetischsten Vergleichen und Ausdrücken der jungen Cardinals.
Jedes Gefühl wird genau erforscht, ohne dabei zu penetrant zu sein. So zieht sich beispielsweise die Liebe der Mutter zu ihren 21 Kindern in kleinen, beiläufigen Bemerkungen der Geschwister wie ein roter Faden durch den Roman. Obwohl sie sie nur als gestressten Schatten zwischen Küche und Waschmaschine wahrnehmen und sogar die Erziehung ihrer Kinder der ältesten Tochter überlässt, errichtet Saucier ihre Figur als stetigen, sicheren Hafen für die Geschwister:
Diese Frau kennt uns besser als wir selbst. Sie hat uns aus der Wolle ihrer Seele gestrickt, sie kennt uns auf rechts und auf links, sie findet jede verlorene Masche wieder.
Auf dem Fundament dieses Familienzusammenhaltes haben sich die Cardinal-Kinder aus dem anarchischen Unabhängigkeitsgefühl ein Gebäude gebaut, das gerade dadurch so beeindruckend ist, dass sie dort so selbstverständlich einkehren. Es muss sich nicht erklären oder abgrenzen, denn dieses Gefühl ist der zentrale Grundbaustein auch aller Figuren, die Saucier in Niemals ohne sie in den Mittelpunkt stellt.
Im Angesicht der Tragödie, der sich die 23 Cardinals nun bei ihrem Wiedersehen in der Hotellobby stellen müssen, werden die Erinnerungen an die jugendlichen Machtgefühle und die einst so grenzenlosen Möglichkeiten nicht nur von Schuld, sondern insbesondere von Schmerz und Ehrgeiz überschattet. Niemals ohne sie liest sich dennoch keinesfalls wie die kollektive Selbstgeißelung einer zerstörerischen Großfamilie. Vielmehr errichten sich die Cardinals in Norco eine Welt, in der sie zwar in Anarchie leben wollen, aber gerade an ihren eigenen Gesetzen zugrunde gehen. In dem Verschwinden von Angèle zeigt sich bis zuletzt nur den wenigsten, was von Anfang an klar war: »In dieser Familie ging es nie darum, glücklich zu sein. Also kann man sich auch nicht beschweren, dass wir es nicht geschafft haben.«