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Virtual Reality
Wait a Minute

Was passiert mit unserer Identität, wenn wir plötzlich von Bildschirmwelten umgeben sind? Was, wenn wir durch ein VR-Headset das Fenster in den eigenen Wachtraum finden? Künstler Mark Farid will die Grenzen des Realen und Virtuellen zum Einsturz bringen. Untersuchungsgegenstand ist dabei er selbst.

Von Ho-Seoung Moon und Franziska Weidle

Wenn wir die Arme ausbreiten könnten, um uns freischwebend über den Wolken zu bewegen und dabei sogar den Wind im Haar spüren, wäre dann der Traum vom Fliegen nicht Wirklichkeit geworden? Im Erleben eines solchen Moments ist das Realitätsempfinden so täuschend echt, dass wir erst nach dem Erwachen feststellen, ob es sich um einen Traum- oder einen Wachzustand gehandelt hat. Was nun, wenn das eben beschriebene Erlebnis nicht einer Traumwelt entspringt, sondern einem Virtual Reality (VR) Game wie Lucid Trips vom Hamburger Motion Designer Nico Uthe? Das Spiel, so Uthe, wurde aus dem Wunsch heraus entwickelt, andere an seinen intensiven Flugerfahrungen im Traum teilhaben zu lassen. Das Absetzen des Headsets lässt uns »erwachen«. Doch sind unsere Erlebnisse im virtuellen Raum nicht echt gewesen? Haben wir wirklich nur geträumt?

Die eingangs beschriebene Irritation liegt wohl darin begründet, dass das Erleben erst die eigene Realität schafft. Nach Edmund Husserls Phänomenologie und Immanuel Kants subjektivem Konstruktivismus resultiert die persönliche Welterfahrung nämlich aus der Wahrnehmung des Einzelnen. Obwohl ein Traum somit allein im Geist existiert und seinen Ursprung in unserer Vorstellungskraft hat, ist die Erfahrung doch an sich erlebnistheoretisch mitteilbar – vorausgesetzt die eigene Wahrnehmung wäre allen zugänglich. VR-Games wie Lucid Trips illustrieren, wie sich heute die Grenzen von äußerer und imaginärer Welt förmlich aufzulösen beginnen. Aufgrund modernster Technik und intensiver Forschung ist es offenbar gelungen, virtuell einen Raum zu schaffen, in dem sich die eigene Fantasie des Traumes manifestiert und nachvollziehbar wird. Doch nicht nur Träume lassen sich plötzlich teilen, auch Körper sollen mittels VR-Technik austauschbar werden. Das internationale Künstlerkollektiv BeAnotherLab erprobt so auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Studien, inwieweit die performative Simulation mit Oculus Rift einen tatsächlich glauben lassen kann, man wäre im Körper des anderen Geschlechts. In weiteren Experimenten schlüpfen sie auch in den Körper eines Rollstuhlfahrers oder wechseln die Hautfarbe. Akustisch wird die visuelle Erfahrung von Erlebnisberichten der anderen Person untermalt. Dadurch soll ein direkter Zugang zum Fremdpsychischen eröffnet werden, der es dem User erlaubt, über körperlich-sinnliche Eindrücke sowie private Gedanken und intime Gefühle die Wahrnehmungsperspektive des anderen einzunehmen.

The Machine to be Another: Gender Swap Experiment.

Das dabei geförderte Empathievermögen wird im öffentlichen wie auch akademischen Diskurs als entscheidendes Potenzial gehandelt: Virtual Reality verspräche, die Welt mit den Augen anderer sehen und begreifen zu können. Doch geht es dabei wirklich um das Fremdverstehen? Der in der aktuellen Entwicklung unserer Gesellschaft beobachtbare Hype zur Selbstdarstellung und –mitteilung scheint doch eher daher zu rühren, dass alle Welt erkennen solle, wer man ist bzw. glaubt zu sein. Selbst wenn wir auf Facebook sharen und liken oder uns in SecondLife zum U2 Konzert treffen, sind wir doch ständig damit beschäftigt, Aussagen über uns selbst zu treffen, statt miteinander zu kommunizieren. Kein Wunder also, dass trotz größtmöglicher Vernetzung Gefühle von Isolation und Einsamkeit auftreten. Mit dem stetigen Voranschreiten der Informationstechnik hoffen wir schließlich auf einen neuen Weg zu einer gemeinsamen Welt im (Mit-) Erleben. VR erklärt sich damit als logische Folge, um die subjektiv erlebbare Innenwelt künstlich in eine beobachtbare Außenwelt zu überführen.

Das Ich im Spannungsfeld von virtueller und realer Welt

Der britische Medienkünstler Mark Farid ist ein Kind eben jener Denkart und Zeit. Im Bann der technischen Innovationen will er nicht nur eigene Erlebnisse in einer »digitalen Parallelwelt« (ARTE Tracks) teilen, sondern im Körper eines anderen wohnen. Dazu begibt er sich mit seinem Selbstexperiment Seeing I auf eine vierwöchige Reise, bei der er zwar das Versuchslabor (seinen physischen Raum) nicht verlässt, über das VR-Headset jedoch den aufgezeichneten Alltag eines anderen ganzkörperlich nacherlebt. Nicht nur wird er sehen und hören, was dem anderen widerfährt. Er wird auch das und dann essen, was und wann der andere isst, dann schlafen, wenn der andere schläft. Was ihn zu diesen grenzüberschreitenden Mitteln greifen lässt, ist die Frage, ob sich sein Selbstverständnis auflösen und er im Ich des anderen aufgehen wird. »Will Mark start to believe this new life as his own?«, heißt es im Trailer zu diesem nicht ganz ungefährlichen Experiment. So könne er massive neurologische Störungen davontragen oder sogar sein Augenlicht verlieren.

Nach einem persönlichen Gespräch mit Farid auf dem Dokumentarfilmfestival docsbarcelona, bei dem er dieses Jahr den Music Library Award kassierte, bestätigte sich unsere Annahme: Sicher ist sein Projekt künstlerisches Happening und soziologisches Experiment zugleich. Im Vordergrund steht jedoch ganz klar die Frage nach den Auswirkungen, Grenzen und der Tragweite von VR-Technik. Das Seeing I soll uns zeigen, welche Zukunft auf uns wartet. Dabei leuchten Farids Augen bereits jetzt hell auf, wenn er davon erzählt, dass es sich hier vermutlich »um das Beste handelt, was die Menschheit je hervorgebracht hat«. Dazu muss das Experiment nur noch seine Grundannahme über die personale Identität bestätigen, die auch an eine zentrale Frage der Philosophie erinnert: Wer bin ich und was macht mich aus? Doch was versteht das Team hinter Seeing I eigentlich genau unter dem Begriff der Identität? In der Selbstdarstellung auf der Website heißt es dazu:

Seeing-I is a social-artistic experiment that questions how much of the individual is an inherent personality and how large a portion of the individual is a cultural identity.

In diesem Statement wird das Konzept der personalen Identität mit dem Begriff der Individualität gleichgesetzt. Das Selbst erklärt sich dabei aus einer gegenständlichen Denkweise, der zu Folge es möglich wäre, die kulturell geformte Identität vom inhärent Individuellen zu isolieren. Es geht also darum, herauszufinden, inwieweit wir ein bloßes Produkt unserer Umwelt sind bzw. ob ein Selbst überhaupt existiert, welches mich als Individuum auszeichnet und einzigartig macht. Die Aussagen des Teams legen dabei schon jetzt nahe, dass unsere Persönlichkeit wohlmöglich gänzlich durch äußere Umwelteinflüsse determiniert und der selbstbestimmte Teil einzig dem individuellen Lebensinput geschuldet sein könnte. Wenn es dem Seeing I also gelingt, in die Lebenswelt der anderen Person einzutauchen und sich selbst dabei zu vergessen, dann wäre es identisch mit dem anderen, selbst der andere geworden.

Wait a minute. Virtual Reality als Identitätsdetektor? Gehen wir hier mit Farid, gäbe es praktisch keinen Unterschied mehr zwischen ihm und seinem Avatar, da er auf die äußere Erfahrung des anderen identisch reagieren würde. Was mich ausmacht, was mich von allen anderen unterscheidet, das individuelle Ich-Sein, wäre dann in unserem digitalen Zeitalter virtuell (re-) produzierbar geworden.

Personale Identität ist mehr als körperliche Wahrnehmung

In einem 24-Stunden Pretest gab Farid ganz automatisch zwei Schüsse mit seiner zur Pistole geformten Hand ab, während er über das VR-Headset dem anderen beim GTA-Spielen zuschaute. Doch kann solch ein Verhalten tatsächlich Aussagen über die Konstruktion der eigenen Identität liefern? Bei genauerer Betrachtung wird schnell klar, dass die Konzeptionierung des Experiments auf sehr strittigen Vorannahmen beruht. Betrachten wir doch einmal die Überlegungen des US-amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt zu Freedom of the Will and the Concept of a Person (1971): Nach Frankfurts Theorie hätte Farid nämlich lediglich erreicht, ein »Wanton« zu werden. Er kennt dann die Wünsche und Begierden des anderen (»first-order desires«), die er sich nach und nach aneignet. Damit ist es ihm geglückt, das zu wollen, was der andere will. Zugleich versperrt er sich aber den Zugang zu einem kritischen Selbstverhältnis in Bezug auf das eigene Wollen und das des anderen (»second-order volitions«). Als »Wanton« weiß er nicht, ob das, was der andere tut, auch das ist, was der andere wirklich will (»free will«). Nach Frankfurt besteht die Willensfreiheit aber gerade darin, das tun zu können, was man selbst für richtig erachtet, um losgelöst von Affekten frei zu agieren. Aufgrund seiner konditionierten Adaptionsfähigkeit an das Verhalten des anderen versinkt Farid also vollkommen im Spiel, das seinen einzigen Fokus bildet. Das ähnelt wohl eher einem Selbstverlust, da die Individualität einer Person in ihrer Beziehung zu sich selbst in Abhängigkeit zur eigenen Umwelt begründet liegt. Der Abstieg von einer Person zu einem Wanton sagt daher wenig darüber aus, ob zwei Personen miteinander identisch sein könnten.

Das Leben geträumt oder den Traum gelebt: Der britische Medienkünstler Mark Farid mit Oculus Rift.

Auf einer weitaus grundständigeren Ebene erscheint jedoch bereits der Versuchsaufbau zweifelhaft. Denn spinnt man das Gedankenspiel einmal weiter, stellt sich die aufdringliche Frage danach, was wohl passiert, wenn Farid aufs Klo muss, sein Alter Ego aber nicht. Die hier angewandten Simulationstechniken mögen wohl die fortschrittlichsten sein und ein deutlich stärkeres Immersionserlebnis, wenn auch nicht mit allen Sinnen (und Notdürften), als in einem Computerspiel hervorrufen. Wie der amerikanische Philosoph Thomas Nagel in seinem berühmten Aufsatz What Is it Like to Be a Bat (1974) aufgezeigt hat, können wir dabei jedoch bestenfalls nachempfinden, wie es sich für einen Menschen anfühlt, in der Haut einer Fledermaus zu stecken. Damit ist man selbst aber noch zu keiner Fledermaus geworden. Das erklärt sich laut Nagel aus der artspezifischen Bedingtheit der subjektiven Welterfahrung, weshalb wir trotz aller Empathie die Frage nie beantworten werden können. Als Fledermaus wüssten wir überhaupt nicht, dass wir uns die Frage danach stellten. Genauso ist es bei Farid, der zwar nicht die Art wechseln will, sondern nur im Körper eines anderen Menschen steckt, aber doch dadurch nicht zum anderen wird. Die eigene Identität, das was uns ausmacht, das inhärent Individuelle, wird bei Farids Selbstversuch nicht sichtbar, sondern vielmehr inaktiv, da er sich der anderen Lebensumwelt hingibt und aufhört, er selbst zu sein.

Das virtuelle Selbstbild, der neue Weg zur Selbsterkenntnis

Sowohl analog als auch virtuell in vier Wänden eingesperrt zu sein, sich selbst stumm zu schalten und jeglicher Form der Kommunikation zu berauben, soll helfen, sich in jemand anderen einzufühlen? Wodurch soll die geforderte Empathie entstehen, wenn Farid in der Welt des anderen versinkt, ihm aber die Gedanken des anderen verschlossen bleiben und seine eigenen Gefühle im virtuellen Rauschen verhallen? Gewissermaßen schließt sich hier der Kreis im aktuellen Gesellschaftsparadigma. Denn mit dem wechselnden Status quo der Technik scheint sich auch der Status quo des Selbstbildes im sozio-kulturell hervorgebrachten Realitätsverständnis zu verschieben. Innerhalb dieser Logik ist es nur konsequent, die zur Verfügung stehenden technischen Mittel zu nutzen, um dem steigenden Bedürfnis nach Selbstdarstellung wie -vermittlung unabdinglich Folge zu leisten. So hoffen wir, Selbsterkenntnis in Avataren der digitalen Medienwelt zu finden. Es ist ein Spiegel für die Sehnsucht nach Antworten und Gewissheit, weil einen die Angst beschleicht, sich selbst zu verlieren. Es regen sich Zweifel, ob es so etwas wie ein individuelles Selbst je gegeben hat. Die Lösung scheint einfach, denn die Technik erschlägt gleich alle lästigen Fliegen mit einer Klappe: Wir wandeln mit ihr auf den Spuren unseres Selbst, lassen unsere Träume Wirklichkeit werden und schaffen gemeinsame Erlebnisse. Fraglich bleibt allerdings, ob diese Gleichung aufgeht. Schließlich bleibt zu bedenken, dass ein klar gezeichnetes Bild von einem Selbst, das medial vermittelt wird, weder Selbsterkenntnis noch -verwirklichung bedeutet. Virtuelle Interaktivität entpuppt sich dabei einmal mehr als eine Illusion von Willensfreiheit und sozialer Gemeinsamkeit, die uns von den Ansprüchen echter Beziehungen entlastet und uns kurzweilig Befriedigung verschafft. Im permanenten Modifizieren eines digitalen Ichs entfremden wir uns eher, als dass wir uns im sozialen Miteinander und dem gemeinsamen Bezug auf eine geteilte Umwelt wiederfänden.

Von Empathie zu Telepathie, ein wahr gewordener Traum

Der zu beobachtende Umgang mit neuen technischen Meilensteinen lässt uns glauben, dass sich für alles eine Lösung berechnen ließe, solange der verfügbare Datensatz nur ausreicht. Versteifen wir uns jedoch zu sehr auf virtuell vorgegebene Welten, leidet unsere Kommunikationsfähigkeit und folglich auch unsere Imaginationskraft darunter. Womöglich verlernen wir eigene Träume zu haben, weil wir die Fantasien anderer konsumieren. Visionen und Spontaneität, Einfall und Zufall wären undenkbar, da alles, was nicht binär kodierbar ist, ausgeklammert würde. Wäre die Technik die Formel dafür, was »die Welt im Innersten zusammenhält«, dann wäre auch das Leben nichts weiter als ein binärer Code. Mag die Natur in einer virtuell simulierten Welt auch täuschend echt wirken, dann handelt es sich immer noch bei allem um Nullen und Einsen, ein ständiges Oszillieren zwischen Ja oder Nein. Aus wie vielen Nullen und Einsen bestehe dann Ich? Das programmierte Leben ermöglicht eine Entfaltung im Berechenbaren, der Blick für das Große und Ganze geht verloren.

Selbst wenn seine Performance doch nie das zeigen kann, was er sich davon verspricht, liefert Farids Unterfangen trotz allem unbestritten interessante Erkenntnisse. So kann Simulationstechnik dazu dienen, etwas sichtbar zu machen, was sich sonst an der Lebenswelt nicht einfach beobachten ließe: Der Einfluss vom Cyberspace auf die menschliche Psyche beispielsweise. Dabei ist es die Selbstreferenzialität, der er sich während des Versuchs entledigen will, mit der das Experiment steht und fällt. John Ingles geplanter Dokumentarfilm über das Seeing I-Projekt bildet für uns daher den Kernpunkt des gesamten Experiments. Denn gerade die mediale Vermittlung kann den verlorenen Selbstbezug widerherstellen: So würde unter Umständen ein Dialog angestoßen, der uns verdeutlichen kann, wie wichtig es ist, sich selbst stetig in Abhängigkeit zur eignen Umwelt zu reflektieren, um eine Medienpraxis zu erlernen, die die Funktion der Simulation darin erkennt, etwas Neues, dem Virtuellen Eigenes zu schaffen. Das würde uns vielleicht auch davor bewahren, wie Farid zu einem Wanton zu werden.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 11. September 2015
 Kategorie: Misc.
 John Ingle (Director of Documentary) // BeAnotherLab
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