Am 26. August 2013 erschoss sich Wolfgang Herrndorf am Ufer des Hohenzollernkanals. 2010 wurde bei dem Schriftsteller ein Hirntumor entdeckt. Daraufhin verordnete sich Herrndorf Arbeit und Struktur, schrieb zwei Romane und einen Blog, der nach seinem Tod ebenfalls in Buchform erschien. Statt einer Rezension zu diesem Blog in Buchform folgt nun ein Bericht über einen Leseprozess.
Von Almut Konsek
Den Blog habe ich nicht gelesen. Natürlich war er Gesprächsthema. Wenn man von literaturinteressierten Freunden umgeben ist und in Berlin wohnt, dann erzählt dir irgendwer irgendwann einmal davon. Man nickt interessiert und verspricht selbst einmal reinzuschauen – immerhin hat man Tschick, den zweiten Roman Wolfgang Herrndorfs, mit Vergnügen gelesen – doch dann vergisst man es wieder. Am Rande bekommt man mit, wie der Autor den Preis der Leipziger Buchmesse für Sand erhält und denkt wieder kurz daran: Ach ja, der ist ja so schwer krank und da gibt es diesen Blog – aber weiter dringt man nicht ein in die Thematik. Da ist also jemand todkrank, da schreibt jemand ein Buch und dann noch eins und schreibt und schreibt – bis es zu Ende ist. Und nennt diesen Prozess Arbeit und Struktur. Vielleicht war mir das damals zu abstrakt – einfach zu weit weg von dem eigenen Leben.
Dann die Meldung, dass Herrndorf gestorben ist und man schaut am selben Tag doch noch auf den Blog. Und man schaudert über den letzten Eintrag – den Schluss. Einen kleinen Moment denkt man an Kleist. Und dann liest man die vorherigen Einträge, um dann doch begreifen zu wollen, was da die letzten Jahre passiert ist. Etwas an dem man nicht teilgenommen hat. Und man beginnt zu verstehen, zumindest ein klein wenig. Nicht was Herrndorf erlebt hat und wie es seinen Freunden und seiner Familie dabei gegangen sein muss – soweit würde ich nie gehen – sondern warum dieser Blog existierte und warum ihn so viele lasen. Ich habe mir dann vorgenommen, innerhalb einer Woche den Blog nachlesen zu wollen – ich habe es nicht geschafft. Zumindest zur Hälfte nicht. Ich wurde abgelenkt, unter anderem auch, weil ein Blog weniger greifbar ist als ein Buch. Er liegt nicht auf dem Nachttisch neben deinem Bett und fühlt sich nicht fest und glatt an in deinen Händen.
Stattdessen entdeckte ich einige Wochen später In Plüschgewittern in dem Buchregal meiner Schwester und fühlte mich in vielen Passagen verstanden wie schon lange nicht mehr. Es ist nicht mein Lieblingsbuch geworden – dafür finde ich es dann teilweise doch zu abgedreht und den Plot am Ende unvollständig, als hätte der Autor einfach keine Lust mehr auf seine Geschichte gehabt. Aber eines ist mir ganz deutlich in Erinnerung geblieben: Herrndorf konnte Situationen beschreiben, die ganz unmittelbar ein bestimmtes Lebensgefühl in einem weckten. So wie man den Geruch einer bestimmten Speise wahrnimmt und sich plötzlich an den Mittagstisch der Großeltern zurück versetzt fühlt.
Dieses Assoziationen weckende Talent, fand ich in Arbeit und Struktur wieder. Da berichtet z.B. der Autor von einer Fahrradreparatur und der erinnerten Stimme des Vaters im Ohr, der ihm mit zehn Jahren zeigte, wie ein Schlauch zu wechseln ist: »Wenn das da wieder reinrutscht, war alles umsonst.« Diese lebensnahen Passagen sind es, die eine Sogwirkung erzeugen – die vielleicht auch einer voyeuristischen Handlung gleicht. Was passiert an diesem Tag und was macht er am nächsten? Und dann und dann? Und fast vergisst man, dass es hier, so klischeehaft es klingt, um Leben und Tod geht. Natürlich, dieser Blog ist, so lebensnah er gestaltet zu sein scheint, gleichzeitig ein literarisches Konstrukt, von einem intentional handelnden Geist, der sich ganz genau überlegte, was er veröffentlichte.
Ein Satz aus den Fragmenten hat mir daher besonders gefallen:
»Was stört es mich, wenn ungebildete Literaturwissenschaftler meine Großtaten bei der mehrfachen Umrundung des Plötzensees, sowohl zu Fuß als auch im Wasser schwimmend, nicht gelten lassen wollen?«
Herrndorf war am Ende Nihilist, wie er selber schreibt, er erwartete nichts und glaubte an nichts. Dem obigen Zitat vorangehend, reflektiert er, dass es ihm egal sein konnte, ob jemand nach seinem Tod seine Tagebücher liest – die er trotzdem vernichtete. Nur in dem jetzigen, lebendigen Augenblick zählte noch das, was er tat, was er schrieb und was er sich wünschte. Das wäre nun also meine Entschuldigung – ihm wäre es insofern egal, was ich hier schreibe. Und bald werden sich Bachelor- und MasterstudentInnen und DoktorandInnen und gebildete und vielleicht auch »ungebildete« LiteraturwissenschaftlerInnen auf seine Romane und seinen Blog stürzen und Arbeiten über Autorinszenierung oder Egodokumente oder Literatur im Zeitalter der Digitalisierung schreiben. Klar, dafür ist diese recht neue Textsorte einfach zu verführerisch und das Material zu ergiebig, um es unangetastet zu lassen. Das möchte ich auch niemandem verbieten und ich will auch gar nicht verschweigen, dass mein Literaturwissenschaftlerherz nicht auch kurz über diese Möglichkeiten nachgedacht hat. Literatur ist es ohne Frage, warum also nicht darüber urteilen, es analysieren, untersuchen, darüber diskutieren und Seminare abhalten. Das überlasse ich jedoch an dieser Stelle gerne anderen.
Worauf ich hinweisen möchte, ist Folgendes: Jeder wird dieses Buch anders lesen und jedem werden andere Dinge auffallen. So empfand eine Freundin, sie ist Medizinstudentin, die Sicht des Patienten als besonders interessant – Arbeit und Struktur als Pflichtlektüre für angehende Mediziner? Es ist ein Buch über Krankheit, Wahnsinn, über den Tod – über das Wissen, dass der Tod kommen wird. Die Waffe ist immer wieder ein großes Thema und klickt bedrohlich im Hintergrund – also auch ein Buch über Sterbehilfe im engsten Sinne. Es ist aber auch ein Buch über Arbeitsprozesse und über den Literaturbetrieb – wunderbar übrigens die Stelle über Kehlmann, den Herrndorf in dem »Gegenteil einer Aura« erstrahlen lässt. Es ist ein Buch von einem Literaturliebhaber für Literaturliebhaber – eh ich mich versah, lag mein erster Dostojewski auf dem Nachttisch. (Lieber spät als nie, mögen bösen Stimmen raunen.) Es ist ein Traumtagebuch und somit eine Dokumentation eines kreativen Geistes, der auch nachts nicht aufhörte zu malen. Es ist ein Buch über letzte Wünsche und man ist froh, dass sich Herrndorf zu Lebzeiten den Wunsch einer ruhigeren Wohnung erfüllt hat. Es ist ein Buch, in dem der Humor des Autors lebendig bleibt – schwarz und intelligent, doch immer zu genießen. Und es ist ein Buch über die Kostbarkeit von Freundschaft:
»Immer die gleichen drei Dinge, die mir den Stecker ziehen: die Freundlichkeit der Welt, die Schönheit der Natur, kleine Kinder.«
Im Nachhinein bin ich doch froh, dass ich den Blog nicht kontinuierlich und zeitnah mitgelesen habe. Das hätte mir den Stecker gezogen.
Super geschrieben! Jetzt möchte ich auch Herrndorf lesen…