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Was Frauen wollen

Das Theater der Nacht in Northeim entführte am 13. Mai in die Welt des Mittelalters. Zu sehen gab es eine spezielle Version von Geoffrey Chaucers Prosatext Die Erzählung der Frau von Bath mit dem Titel Die andere Seite der Nacht. Aufwendige Großfiguren und 4 Schauspieler überzeugten nicht zuletzt durch Kostüm und Maske.

Von Telse Wenzel

Die Erzählung der Frau von Bath aus Geoffrey Chaucers Canterbury-Erzählungen, geschrieben ab 1387, hat es in sich: Der an den Aufbauprinzipien des klassischen Artusromans orientierte Prosatext dreht sich um einen Ritter, der sich eines Mädchens mit Gewalt sexuell bemächtigt und dafür zunächst zum Tode verurteilt wird, dann aber eine letzte Möglichkeit bekommt, sein Leben zu retten: Im Laufe einer vorgegeben Frist soll er die Antwort finden auf die Frage, »was Frauen am meisten begehren«. Im Wald trifft er auf eine alte Frau, die ihm die Lösung zu nennen verspricht, die ihn vor dem Tod bewahren werde.

Die Antwort, die der Ritter nach Absprache mit der Einsiedlerin nennt – alle Frauen würden die Herrschaft über den Mann begehren –, führt tatsächlich dazu, dass der weibliche Gerichtsrat unter Führung der Königin von dem Todesurteil abrückt. Nun muss der Ritter jeder Bitte der Alten nachkommen und diese fordert den Ehebund. Erst als der Ritter anerkennt, dass wahrer Adel stärker eine Frage des tugendhaften Verhaltens als der Geburt und äußeren Schönheit sei, und erst nachdem er der Frau die Entscheidungsmacht anheim stellt (»Wie ihr wollt, ist es mir recht.«), verwandelt sich diese in eine junge, äußerlich wie innerlich schöne Braut.

Was die nur 4-köpfige Schauspielergruppe im Theater der Nacht auf der Grundlage dieses Textes mit ihrem Masken- und Figurenspiel und unter Übernahme von Doppel- und Dreifachrollen auf die Bühne brachte, war bildgewaltig, bezaubernd, manchmal ernst und manchmal auch urkomisch. Als nach 1 ½ Stunden alles vorbei war, wollte der Applaus im ausverkauften Saal kein Ende nehmen.

Gegenüber Chaucers Text nimmt die Inszenierung einige Vereinfachungen und Ergänzungen vor, die den Plot wieder stärker an die Strukturprinzipien des klassischen Artusromans anbinden. So bewältigt man den schwierigen Aspekt der Perspektivierung – es ist die Frau von Bath, die die Geschichte vom Ritter erfindet und erzählt – ganz einfach dadurch, dass man die Rahmenebene kappt. Genial ist auch der neue Einstieg, den die Schauspielergruppe findet. Sein Aufbau dürfte dem Mediävisten in Teilen bekannt vorkommen: Der Ritter verschafft sich am Hof der ihm nicht gerade wohlgesonnenen Dame seiner Wahl Eintritt, indem er sich unter falschem Namen, nämlich als ›Der blaue Ritter‹, ankündigen lässt. So kann er an dem anstehenden Turnier teilnehmen, um sich die Gunst der Burgherrin zu erkämpfen. Was folgt, ist eine Parodie auf die ritualisierten Zweikämpfe der mittelalterlichen Textvorlagen, die ungeheuer charmant und witzig ist.

Señor de Roquefort und Konsorten

Auf der Bühne gibt sich die in- und ausländische Recken-Prominenz die Klinke in die Hand: Da ist auf der einen Seite Señor de Roquefort (Gudrun Stockmann) – eindeutig ein Vertreter der abstoßenden Barbarei, die es gilt, als Artusritter im Kampf zu besiegen. Señor de Roqueforts Halbmaske wird beherrscht von einer hässlich-pickeligen roten Nase, sein Harnisch ist mächtig, er schmatzt und grunzt wie ein Ork von Peter Jackson. Der Hunne mit dem silbernen Schnitt (Ruth Brockhausen) betritt den Platz in rotem Wams mit spitzen Schulterpolstern, in Schnabelschuhen und einer gelben Halbmaske mit asiatisch anmutendem langen Bart. Er ist recht stumm und, wenn nicht gerade vom Kampf eingenommen, vor allem damit beschäftigt, sich kampfbereit zu halten und seinen Säbel zu präsentieren. Auf der anderen Seite des kleinen Figurentableaus: der Comte de Soufflee (Heiko Brockhausen) und der Ritter Gernoth vom schwarzen Fels (Christoph Buchfink), die Hauptfigur des Stücks.

Señor de Roquefort ist, wie es sich für den würdigen Endgegner eines Artusritters gehört, seit geraumer Zeit ungeschlagen, »unbesiegt seit 6 Jahrzehnten«. Für seine Kampfkraft liefert sein grotesk ausladendes Schwert den anschaulichen Beweis. (Überhaupt sind diese liebevoll gestalteten Kostüme, Requisiten und Masken grandios!) Topos im Artusroman ist es ja, dass der barbarische Gegner zwar an Körpermasse und Kraft überlegen ist, nicht aber an Behändigkeit, was der Repräsentant des Artushofs im Kampf in der Wildnis unter Beweis stellen kann. Dieses Schema greift das Stück auf, denn das Schwert von Señor de Roquefort ist so lächerlich riesig, dass er es nicht halten oder lenken kann.

Ähnlich geht es aber auch dem Comte de Soufflee, hier ist der Name ebenfalls Programm: Der Gegentypus zu Señor de Roquefort, mit Federhut, Glitzerkostüm und rosa Cape ausgestattet, hat derart gute Manieren und ist so vergeistigt, dass ihn der Kampf schreckt und er es vorzieht, Verse großer Dichter zu zitieren, statt den Gegner anzugreifen. In seinem Schwert verheddert er sich bereits, wenn er es ziehen will.

Trotz Slapstick-Einlagen und einer Komik, die scheinbar vor allem durch die Effekte von Bewegungen und Kostümen entsteht: Diese Gruppe bezieht gerade auch die Schemata der Artusromane in diese humoristischen Szenen mit ein. Denn sie kennt ihr Sujet und kennt die Motive. Aber sie hat es nicht nötig, das auszustellen.

Das gilt auch für die Deflorationssymbolik. Das namenlose Mädchen aus Chaucers Text wird zur Hofdame Anemone von Reinstein (Gudrun Stockmann). Gernoth vom schwarzen Fels kündigt an:

Stolze Blume, ich werde dich pflücken!

Sprechende Namen beleuchten das Verhältnis zwischen den Figuren, gekonnt und unaufdringlich. Nach Gernoths Sieg im Turnier folgt dann die Bewältigung der heiklen Missbrauchsthematik: ein Handgemenge zwischen Ritter und Dame, gewaltsames Hinter-die-Bühne-Zerren, schließlich Geschrei off stage.

Die Macht der Träume – die andere Seite der Nacht

Zu den Höhepunkten der Aufführung zählen zweifellos jene Szenen, in denen die düstere Traumwelt des Ritters Gestalt animmt. In der Textvorlage fehlen sie naturgemäß. Die erste dieser Albtraumszenen platziert das Ensemble dort, wo Chaucers Erzählerin bloß knapp auf die Verzweiflung des Ritters verweist, dem die Zeit auszugehen droht, um die über Leben und Tod entscheidende Antwort auf das Rätsel zu finden: Nacheinander werden drei Großfiguren auf die ins blaue Licht getauchte Bühne gebracht, die den am Boden Schlafenden umtanzen, während aus dem Off verschiedene Fragen ertönen, die sich der Ritter stellt. An Stäben von ganz in schwarz gekleideten Personen geführt, heben und senken sich die 1 Meter großen Köpfe der Fabelwesen. Die Körper der straußenähnlichen Gestalten sind durch Einschnitte zu lenken und werden im Tanz von blauen und weißen Stoffbahnen umweht.

Gleich nach dem Abtritt dieser Großfiguren erscheint eine Personifizierung der Zeit. Während die Gestalt von der einen zur anderen Bühnenseite schreitet, färbt sich der Mond, den sie stumm in der Hand trägt, allmählich rot. Und schließlich betritt der Sensenmann den Raum. Eine über 2 Meter große, von zwei Personen geführte Stabpuppe, mit einem aschfahlen Totenkopf, natürlich, trägt eine bis an die Bühnendecke reichende Sense, die den erschrockenen Ritter langsam in den Würgegriff nimmt. Sphärische Klänge liefern im Zusammenspiel mit dem bläulichen Licht eine eindringliche Untermalung.

Auch den Prozess der Läuterung verlegt die Inszenierung ganz in das Innere der Hauptperson. In der Erzählung der Frau von Bath liegt in der von der hässlichen Frau erzwungenen Heirat und dem sich daraus ergebenden Zwang, die Nacht mit ihr verbringen zu müssen, ein Umkehr- und Spiegelmoment des vom Ritter begangenen sexuellen Missbrauchs; dem Frevler steht bevor, am eigenen Leib die Grausamkeit seiner Tat erfahren zu müssen. Gernoth vom schwarzen Fels dagegen erlebt eine Vergewaltigung durch Anemone von Reinstein in einem ihn verstörenden Albtraum.

Und zur endgültigen Besinnung und Umkehr des Helden führt nicht die Rhetorik der Einsiedlerin, wie bei Chaucer, sondern eine Vision, die die hier bereits den Namen Ragnelle tragende Frau aus der Wildnis (Ruth Brockhausen) herbeiführt: Mit einer etwa 1 ½ Meter großen Stoffpuppe, die wieder zwei Personen in Schwarz führen, gelangt eine Szene voll stiller Poesie und suggestiver Kraft zur Darstellung. Das Publikum sieht für einige Minuten den Tanz eines Kindes, seine Pirouetten und sein freies Schweben in der Luft, bevor die Puppe zurück in die übergroße Rüstung von Gernoth gedrängt wird und die Musik verstummt. Seine Wandlung schöpft der Held vom Theater der Nacht aus sich selbst heraus.

Commedia dell’arte im Visier

Nicht nur mit solchen visuellen Höhepunkten überzeugt die Künstlergruppe. Auch in der ›Frauenfrage‹ zieht das Stück alle Register. Frauenfeindliche Implikationen des Textes werden getilgt, vor allem aber stellt man Gernoth und Anemone ein 2. Figurenpaar gegenüber: Bruno (Heiko Brockhausen) und Clara (Ruth Brockhausen) sind den höfischen Herrschaften als Knappe und Magd zugeordnet. Samtkleidung hier, Filz und Leinen dort machen den gesellschaftlichen Status der jeweiligen Träger sichtbar. Vordergründig sind die von der Körpersprache geprägten Szenen zwischen Bruno und Clara vor allem eins: ungeheuer komisch, das Ehepaar Brockhausen spielt sich hier gegenseitig die Bälle zu. Gleichzeitig erweist sich die Partnerschaft zwischen den beiden Figuren aber auch als die eigentlich ideale und vorbildliche, denn sie beruht auf einer Gleichstellung der Geschlechter.

Theater der Nacht

Das Theater der Nacht spielt am 17.06.2011 um 20h nochmal Die andere Seite der Nacht. Karten können bestellt werden unter: 05551 – 1414 (Di, Mi, Do von 10 bis 13 Uhr) oder unter Theater der Nacht.
 
 
Mit der Konstellation der beiden gegensätzlich aufeinander bezogenen Paare verstärkt die Künstlergruppe noch einmal den Brückenschlag zur Commedia dell’arte, den sie bereits auf der rein visuellen Ebene durch die Verwendung von Halbmasken vollzogen hat. Denn Kennzeichen der um 1550 in Italien entstandenen Theaterform ist neben dem heiteren Grundton und einer körperbetonen Spielweise immer auch der gesellschaftskritische Blick auf zeitgenössische Machtverhältnisse. Als Volkstheater versteht sich die Commedia dell’arte als Sprachrohr derjenigen, die innerhalb der hierarchischen Ordnung ganz unten stehen. Vertreter jener Gruppe macht sie zu Hauptpersonen und Sympathieträgern und hinterfragt die Selbstinszenierung der Herrschenden. Und so ist denn auch Clara diejenige Person im Stück, die ihren Bruno zur Aufgabe des Dienstes bei seinem Herrn drängt und die sich über das Handeln vom Ritter Gernoth immer wieder lautstark empört.

Der Ritter hat den Dreh raus

Doch der ist nach dem Traum vom tanzenden Kind im doppelten Sinne ›erwacht‹ und macht sich, ohne die Antwort auf das Rätsel gefunden zu haben, auf den Weg zu seiner eigenen Hinrichtung, bereit, Schuld und Tod auf sich zu nehmen. Vor dem Henkersbeil rettet ihn – erwartungsgemäß – die liebenswerte Alte aus dem Wald, die hier aber nur flüsternd die richtige Antwort nennt auf die Frage, was alle Frauen begehren und die Zuschauer damit von ihrem Wissen erst einmal ausschließt.

Dann geht in der Aufführung alles ganz schnell: Die bucklige Ragnelle mit den verfilzten Haaren zieht schlurfend in abgerissenen Umhängen mit dem angetrauten Ritter an ihrer Seite zur Höhle, die das Liebesnest der Neuvermählten werden soll. Gernoth steht jedoch zu seiner hässlichen Ehefrau und meistert noch die letzte Aufgabe, indem er ihr, die sich – natürlich – zu verwandeln vermag, die Entscheidung darüber überlässt, ob sie nur bei Tag oder nur bei Nacht schön sein soll. »Entscheidet selbst – so, wie ihr es wollt.« Der Bann ist gebrochen, Ragnelle wird nun auch äußerlich zu der idealen Partnerin, die sie dem Namen nach schon ist: Die gesamte Kostümierung samt Maske wird in einer schwungvollen Drehung abgestreift, eine elegante Hofdame kommt zum Vorschein – die richtige Antwort ist gefunden, das Rätsel ist gelöst.

Weniger rätselhaft ist die Frage nach dem Fazit des Abends. Hier bekam das Publikum Turnierkämpfe und Traumwelten zu sehen, augenzwinkernde Anleihen bei der Commedia dell’arte, mühevoll gestaltete Masken, Kostüme, Großfiguren… Dieses Stück war so bunt, phantasievoll, so reich an Stimmungen und Bildern, vielschichtig auch in seinen Stilmitteln und Sinnschichten, dass man am Ende der Aufführung nur staunend und beglückt den Heimweg antreten konnte.

Und auch, wenn das Bühnenbild lediglich aus blauen Samtflächen und -bändern bestand: Man ist sich doch am Ende sicher, den dunklen Wald, den Turnierplatz, den Tanzsaal des Hofs und all die anderen Orte gesehen zu haben, an denen die Personen agierten. Das zeichnet gut gemachtes Figurentheater wohl auch aus: Dass es gelingt, allein mit den Figuren, Requisiten, Stimmen und der Darstellungskunst der Schauspieler Szenerien so klar vor dem inneren Auge des Publikums vorbeiziehen zu lassen, dass man meint, sie seien während der ganzen Zeit materieller Bestandteil des Stücks gewesen.



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 Veröffentlicht am 26. Mai 2011
 Mit freundlicher Genehmigung vom Theater der Nacht.
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