Zwei Menschen – zwei Perspektiven. Die Autorin Jenny Erpenbeck und der Essayist Bino Byansi Byakuleka begegneten sich im Januar im Literarischen Zentrum. Gemeinsam ist ihren Darstellungen der Schauplatz, den sie als Ausgangspunkt für ihre Texte wählten – Berlin, Oranienplatz –, es trennen sie jedoch Welten. Eine Besprechung und ein Kommentar.
Von Antje Dreyer
Jenny Erpenbecks Roman Gehen, Ging, Gegangen, im September 2015 erschienen, ist ein Spiegel der aktiven Beschäftigung mit den Geschehnissen in unserer unmittelbaren Gegenwart und schaffte es sogleich auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Kritiker verschiedener Printmedien spekulierten, dass die Jury sich mit ihrer Entscheidung gegen die Auszeichnung des Werks der politischen Diskussion fernzuhalten suchte, Scheu zeigte, »ein solch kontrovers diskutiertes Thema für eine Saison in den Mittelpunkt des literarischen Lebens zu stellen« (FAZ, Platthaus, 19.10.2015).
Dass der Roman trotzdem das unbestreitbare Potenzial hat, der Roman der Saison zu sein, ist gerade dem Bezug zu einem aktuellen und vor allem umstrittenen Thema geschuldet. Richard, emeritierter Professor, steht vor dem Problem, dass er mit einem Male Zeit hat, Zeit nach einem von Arbeit und Denken erfüllten Leben. Das Denken kann er nicht abschalten und sinnt über all das nach, was seinem Leben einst Bedeutung verliehen hat, über all das, was in seinem Leben nun scheinbar eine Lücke zurücklässt, wie man mit der gewonnenen Zeit und den unabänderlichen Verlusten umgehen kann. So in sich selbst versunken, bemerkt Richard zunächst die Flüchtlinge auf dem Oranienplatz und vor dem Brandenburger Tor nicht, die für Verbesserungen im deutschen Asylgesetz demonstrieren. Erst später durch die Nachrichten erfährt er davon, und erhofft sich aus Gesprächen mit den Menschen, die ihr Land, ihre Traditionen, ihr Leben hinter sich lassen mussten und jetzt nur noch warten, Erkenntnisse über deren Situation und gleichzeitig auch über die seine zu gewinnen.
Einzelne Stimmen – miteinander verbundenDie Geschichten, die in dem Tatsachenroman erzählt werden, sind vielfältig – es sind die einzigartigen Erlebnisse und dennoch gemeinsamen Schicksale der geflohenen Männer, die Richard schließlich in dem leerstehenden Altenheim in einem Berliner Vorort, in dem sie vorübergehend untergebracht werden, aufsucht. Sie erzählen ihm von ihren Wurzeln, von denen sie abgeschnitten wurden, von ihrem Alltag, den sie hinter sich lassen mussten, von ihrem Identitätsverlust und zeigen verschiedene, mehr oder weniger erfolgreiche Weisen auf, mit der neuen Situation umzugehen:
Der Wille, zu verstehen… und ZweifelDas Paradies ist unter den Füßen der Mutter, sagt Raschid. Richard versucht, sich diesen Mann, der da neben ihm sitzt, in einem blauen Gewand und mit einer Kappe auf dem Kopf vorzustellen. Gern würde ich meine Mutter noch einmal wiedersehen, bevor sie stirbt, sagt Raschid. Sie ist jetzt siebzig. Aber wenn ich nach Nigeria zurückgehe, kann ich nicht mehr zurück nach Deutschland. Warum willst du eigentlich nicht für immer nach Nigeria zurück? Raschid antwortet nicht auf die Frage. […] Wenn meine Mutter mich am Telefon fragt, wie es mir geht, sage ich immer: Gut. Richard fällt ein, wie Raschid am Anfang dieses Gesprächs gesagt hat: Das Paradies liegt unter den Füßen der Mutter. Ich kann kein Blut mehr sehen, sagt Raschid. Und erst jetzt wird Richard klar, dass Raschid zwei Stunden gebraucht hat, nur um die Frage zu beantworten, die er ihm eingangs gestellt hat. Wie mit einem Schnitt wurde unser Leben in dieser Nacht einfach von uns abgeschnitten. Cut, sagt Raschid. Cut.
Mit einfachen Worten, unkomplizierten Sätzen und dennoch auf eindringliche Weise schreibt Jenny Erpenbeck in ihrem Roman die Geschichten der Flüchtlinge nieder, die
Das Eigene – das AndereDie Seele von Osarobo, das weiß er, fliegt jetzt ins Universum hinaus, irgendwohin, wo es keine Regeln mehr gibt, wo man auf niemanden Rücksicht nehmen muss, aber dafür auch für immer und ganz und gar und unumkehrbar allein ist. Auf der Erde aber bleibt er, Richard, mit solchen Leuten wie Monika und dem schnurrbärtigen Jörg zurück. So wie die Löwen auf Osarobos Profilbild sieht er die schon ihre Zähne fletschen: Das hätten wir dir gleich sagen können! Richard weint, wie er seit dem Tod seiner Frau nie mehr geweint hat. Oder war Osarobo es doch nicht?
Erpenbecks Roman reflektiert die Situation, in der Einheimische mit Flüchtlingen konfrontiert werden. Es treffen zwei scheinbar nicht kompatible Lebenswelten aufeinander, die sich – einst durch eine räumliche Barriere getrennt – mischen und ihre Ansprüche umzusetzen versuchen. Es ist ein Denkanstoß, sich mit dem Eigenen und dem Anderen auseinanderzusetzen, seinen Horizont zu erweitern und sich auf humanitäre Grundwerte zu besinnen. Neben den einzelnen Schicksalen, die symbolisch für alle Flüchtlinge stehen, lernen der Protagonist und damit auch die Rezipientin die bürokratischen Hürden, die Rechte und vor allem die Wünsche der Flüchtlinge kennen. »Gehen, Ging, Gegangen«: Das ist die Konjugation eines unregelmäßigen Verbs, das die Gruppe von Männern sich immer wieder einzuprägen sucht, doch der Lernprozess wird ständig unterbrochen. Die Männer sollen den Oranienplatz räumen, die sich freiwillig engagierende Deutschlehrerin geht, die Flüchtlinge haben das provisorische Heim zu verlassen… Eine ständige Bewegung des Weggehens, die Integration und Stabilität nicht zulässt, die ihnen jede Möglichkeit auf eine neue Identität raubt.
Erpenbecks Antwort auf den StimmungsumbruchDer Roman, der mit der Thematisierung der Flüchtlingsaktivitäten auf dem Oranienplatz zwischen 2012 und 2014 aus einer fernen Zeit zu kommen scheint, ist durch die Gleichzeitigkeit seines Erscheinens mit der überschwänglichen Willkommenskultur Deutschlands von einzigartiger Relevanz. In der Lesung Jenny Erpenbecks betonte diese auf Nachfrage Heitkamps, dass Gehen, Ging, Gegangen auch heute noch nicht an Dringlichkeit verloren habe. Angesichts der Pariser Anschläge im November 2015 sowie den Ereignissen während der Silvesternacht in Köln, Hamburg und anderen deutschen Städten sei es notwendig, sich immer wieder vor Augen zu führen, dass von einzelnen Tätern nicht auf die Gesamtheit geschlossen werden dürfe. Die Ereignisse weisen auf die Notwendigkeit hin, einen politischen Roman ernst zu nehmen, der die Individualität in der Gruppe der nach Deutschland kommenden Menschen sucht, die schnell zu einer negativ konnotierten und von zahlreichen Seiten instrumentalisierten Masse werden.
Gehen, Ging, Gegangen hält damit auch uns einen Spiegel vor, lässt uns unser eigenes Verhalten, Denken, Wünschen hinterfragen. Ist der derzeitig in Bevölkerung, Politik und Medien spürbare Stimmungsumbruch gerechtfertigt? Oder sind Jenny Erpenbecks Schilderungen zu blauäugig, den Entwicklungen nicht mehr angemessen? Antworten auf diese Fragen muss sich jeder von uns selbst geben; der Roman Erpenbecks ist dabei jedoch ein hervorragend recherchierter Begleiter, der zahlreiche Facetten zu reflektieren vermag und dennoch keine politische Meinung vorschreibt.
Eine Stimme der »Anderen«Dass dies Bino Byansi Byakuleka jedoch zu wenig ist, ließ er, zweiter Gast im Literarischen Zentrum, die Autorin und das Publikum sogleich wissen. Byakuleka, Flüchtling aus Uganda, Textilkünstler und Essayist, fühlt sich nicht angemessen von Erpenbecks Roman dargestellt. Er beantragte nach dem über ein Stipendium finanzierten Aufenthalt im St. Arsenios-Kloster und der School of Creative Art in Ormylia, Griechenland, im August 2010 Asyl in Deutschland und lebte daraufhin fast zwei Jahre in einem Flüchtlingslager bei Passau. 2012 zog er in einem Protestmarsch von dort nach Berlin und schloss sich dem im Entstehen begriffenen politischen Camp von Flüchtlingen in Berlin auf dem Oranienplatz an. Byakuleka, auch unter dem Namen Patras Bwansi bekannt, versteht sich selbst als politischer Aktivist, was sich auch während der Lesung deutlich zeigte.
Byakulekas Kritik an Erpenbecks Roman resultiert aus deren gewähltem Ausschnitt: Die Lampedusa-Flüchtlinge 1, die auf dem Oranienplatz Unterkunft gesucht hätten, wären schließlich nicht die einzigen, und vor allem nicht die politisch Aktiven gewesen. Das Camp, dessen Ziel es war, ähnlich wie in Byakulekas Manifest We are born free! erläutert, auf lange Sicht die deutsche Asylgesetzgebung zu verändern, sei missverstanden worden. Erpenbeck verteidigte sich: Es handele sich um Literatur, sie sei keine Geschichtsschreiberin, habe mit den Menschen gesprochen, fiktionalisiert… Und doch geht auch ihr Roman auf die politisch motivierten Wünsche der Flüchtlinge ein, die ihnen ein eigenständigeres und selbstverantwortliches Leben in Deutschland erlauben, wie etwa der Wunsch nach Arbeit. So unähnlich sind ihre politischen Ansichten also scheinbar doch nicht, aber Byakuleka stellt unbefriedigt fest: »It depends on how we do present our ideas« – Es hängt davon ab, wie wir unsere Ideen nach außen tragen. Und ist es nicht genau dies, was einen Roman als fiktionales Genre auszeichnet: einen Einblick in eine klar umrissene Welt zu geben, die vielleicht an der unsrigen inspiriert ist, jedoch kein genaues Abbild dieser ist? Und was einem Essayisten schließlich das Recht gibt, auch zu polemisieren?
Was darf man sagen, wie weit darf man gehen?Die Frage, die sich wohl dennoch ein Großteil des Publikums stellte (von dem anzunehmen ist, dass die Mehrheit den Doppel-Essay von Patras Bwansi/ Bino Byansi Byakuleka und Lydia Ziemke, einer freien Regisseurin und Gründerin der Compagnie suite42, nicht kennt), ist die danach, wo der Wunsch, dazuzugehören, sich anzupassen, konstruktiv zu der Entwicklung einer Kultur beizutragen, aufhört – und wo ein forderndes, radikales Eindringen beginnt, dass Furcht und eine hinterfragende Haltung auslöst. Byakuleka las aus seinem Essay vor und erklärte, dass die Kolonialisierung eine Unterwürfigkeit und mangelndes Selbstbewusstsein der Schwarzen gegenüber den Weißen, deren technischer und ideologischer Fortschritt einschüchternd gewesen sei, der Auslöser dafür sei, dass sich das Volk jetzt nach Europa wende.
Einige Äußerungen Byakulekas auf Nachfragen im Publikum empörten dieses sehr: Warum er noch kein Deutsch gelernt hätte nach fünf Jahren Aufenthalt hier? Er hätte kein Recht gehabt, dies zu tun, antwortete er mit Verweis auf die deutsche Asylpolitik, ignorierte jedoch Einwände, die aufzeigten, dass es unzählige freiwillige Helfer gibt, die kostenlos Deutschkurse anbieten – genau wie bei Jenny Erpenbeck geschildert. Stattdessen entgegnete Byakuleka, dass es die deutsche Tradition sei zu sagen, wir wären es nicht gewesen. Eine radikale Stimme, vielleicht zu radikal für die momentane politische Situation… und doch hatte das Göttinger Publikum den Bedarf, zu klären, zu verstehen, sich selbst zu erklären. Die an früher Stelle durch Heitkamp abgebrochene Diskussion aufgrund der bereits zu spürenden Hitzigkeit hätte in jedem Falle weitergeführt werden sollen. Das Informationsbedürfnis des Publikums bestand weiter und hätte an diesem Abend durch eine tiefer gehende Konfrontation fruchtbarer gemacht werden können.