Verkleidung und Maskerade, Täuschung und Ungewissheit. Das Deutsche Theater Göttingen eröffnet die Spielzeit mit Shakespeares Was ihr wollt. Dort erleiden die Verliebten Schiffbruch und irren durch Regen und Nebelschleier. Eine Komödie über die Insellage von Gefühlen und zwischenmenschlichen Brückenbau.
Von Magdalena Kersting
Zwischen rotem Samt und goldenen Stuckreihen mischt sich Nebel in das Stimmengewirr und füllt den hohen Raum. Gleichsam als ob sich die Spannung des Publikums materialisiert hätte, diese aufregenden Minuten der Erwartung, in denen noch alles möglich scheint, bevor sich der Vorhang hebt. Kerzengeruch liegt in der schweren Luft und atmosphärisch von fernem Vogelgezwitscher begleitet, wird der Blick auf die Bühne langsam frei. Auf die Bühne, die eigentlich gar keine Bühne ist, sondern vielmehr ein kleiner See. Mitten im Deutschen Theater!
Das Wasser reflektiert sich opulent an der hohen Decke und den Rängen und empfängt so das Publikum von allen Seiten. Noch mehr Nebel auf der Bühne, über die – oder besser durch die – eine weiße Gestalt schwerfällig nach vorne watet. Auf dem Arm eine junge Frau, ebenfalls ganz in weiß und bewusstlos. Zwei Schiffbrüchige, die an die Küsten Illyriens geschwemmt wurden – die Handlung beginnt.
Die zarte Frau mit den dunklen Haaren ist Viola, eine Dame aus edlem Haus, deren Vergangenheit so nebulös ist wie die Bühne selbst. Sie findet sich im Reich des Herzogs Orsino wieder und tritt, verkleidet als Knabe Cesario, in dessen Dienst. Orsino, unglücklich verliebt, verzehrt sich nach Gräfin Olivia und schnell wird Viola beauftragt, seiner Angebeteten Liebesbotschaften zu übermitteln. Doch längst hat Viola selbst ihr Herz an Orsino verloren und damit nicht genug, verguckt sich die Gräfin in den Jüngling Cesario. Es bedarf nicht viel und schnell sind die Stricke dieses so typisch für Shakespeare verwirrenden Liebesspiels gespannt.
»Ich bin nicht, was ich bin!«Es ist sicher kein Zufall, dass sich in Illyrien sowohl die »Illusion« als auch die »Lyrik« lautmalerisch wiederfinden. Niemand scheint in Illyrien der zu sein, für den er sich ausgibt. Nicht zuletzt deshalb, weil durch das Wasser auf der Bühne die Illusion der Spiegelbilder allgegenwärtig ist. Geschickt steht unausgesprochen die Frage im Raum: Was ist echt und was nur eine Spiegelung?
Auf kleinen Inseln schwimmen die Schauspieler über die Bühne, die Unsicherheit der Figuren wird damit zum schwankenden Leitmotiv der Inszenierung von Intendant Mark Zurmühle. Auf der eigenen Insel ist jeder für sich allein, allein mit seinen Gefühlen – echte zwischenmenschliche Brücken entstehen nicht, auch wenn die Liebe im Zentrum des Stücks als beständiger Motor die Handlung antreibt.
»Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter.«Das Bühnenbild ist minimalistisch gehalten und erinnert mit leblos ausgestopften Tieren und fast schon surreal bunten Blumenwiesen, die neben den Schauspielern auf den Inseln über das Wasser gleiten, an lebendig gewordene Poesie. Eine seltsam statische Traumwelt, die den Charakteren viel Raum zum Entfalten gibt und sie doch gleichzeitig durch die Inseln deutlich auf ihre eigenen Grenzen hinweist.
Im Mittelpunkt des liebenden Verwirrspiels steht zweifelsohne Viola, die durch ihre zurückhaltende und sanfte Art die Zerrissenheit ihrer eigenen Doppelrolle empathisch vermittelt. Leichtfüßig bewegt sie sich zwischen den Inseln und Personen, wechselt ihr Geschlecht und die Gefühle virtuos. »Was machen wir denn jetzt?« fragt sie an einer Stelle hilflos an das Publikum gewandt und man versteht sofort, warum ihr Herz Orsino gehört.
Der Herzog, der mit jeder Geste die Qualen seiner unglücklichen Liebe authentisch zum Ausdruck bringt, ist ideal als Gegenpart zu Viola besetzt, die enge Verbindung der beiden Schauspieler ist fast schon greifbar. Olivia bleibt im Dreigespann Orsino, Viola, Olivia – der Vokalgleichklang der Namen ist offenkundig – mit ihren blonden Locken und weißen Gewändern fast zu blass. Ein wenig mehr Entschlossenheit hätte ihrer Rolle gut gestanden, denn das liebestrunkene Trio und mit ihm das ganze Stück definiert sich ja gerade durch ihre kräftig oszillierenden Abhängigkeiten voll Verlangen und Ungewissheit.
»Die Liebe finden ist doch angenehm, dann ist es mit der Suche kein Problem.«Insgesamt überzeugt das Ensemble aber durchweg – die Charaktere sind zum Teil einfach und stereotyp gezeichnet, die Schauspieler füllen ihre Rollen aber großartig aus und jede Figur vermittelt eine für die Shakespeare-Komödie typische, individuell traurige Komik. Das wird vom Publikum nicht nur zum Schluss, sondern auch zwischendurch mit viel Applaus honoriert. Dazu trägt auch die erfrischende Übersetzung ins Deutsche von Angela Schanelec bei, die zusammen mit Zurmühle vor zwei Jahren bereits Macbeth erfolgreich auf die Bühne des Deutschen Theaters brachte.
Weniger frisch und ein bisschen zu klischeehaft endet das Spiel auf dem Höhepunkt der turbulenten Verwechslung, als unter einem feinen Regenschleier alle Inseln und damit alle Figuren Stück für Stück einem großen Puzzle gleich zusammen finden. Die plumpe Symbolik erdrückt das federleichte Happy End, denn natürlich löst sich das Netz der Verstrickung in dieser poetischen Gesellschaft so mühelos, wie das nur in einer zu einem Gedicht gewordenen Welt geschehen kann. Übrig bleibt trotzdem ein atmosphärisches Stück mit imposanter Optik, das dem Publikum stumm die Antwort auf die Frage »Was ihr wollt« zu geben scheint: betörende und kurzweilige Unterhaltung ohne echten Tiefgang.