1995 war die Uraufführung von Zerbombt in London ein Skandal – und die damals 24-jährige Dramatikerin Sarah Kane über Nacht berühmt. In Göttingen verließen vor Ende der Vorstellung zwei Damen empört den Saal – die Türe demonstrativ hinter sich zuschlagend. Katharina Ramsers Göttinger Inszenierung war kein Skandal auf der Bühne, aber eine Bombe im Herzen.
Über eine Premiere, die gar nicht vor hat, zum Skandal zu werden.
Von Friederike Schruhl
»Gott ist ein Wichser.« Es ist Krieg. Soldaten sind in der Stadt, die Lebensmittel reichen kaum aus, psychische und physische Gewalt sind alltäglich geworden. In dieser trostlosen Welt treffen sich Ian (Gabriel Raab) und Cate (Andrea Strube) in einem Hotelzimmer wieder. Früher waren sie ein Liebespaar, heute machen sie sich gegenseitig fertig: Ian beschimpft Cate, vermisst sie aber eigentlich; Cate will nichts mehr von Ian wissen, sehnt sich aber nach der Geborgenheit ihrer Beziehung. Was als normales Beziehungsdrama beginnt, entwickelt sich schnell ins Extreme. Aus zarten Berührungs- und Annäherungsversuchen werden handgreifliche Auseinandersetzungen. Ian erniedrigt, schlägt und vergewaltigt Cate. Schonungslos wird hier die Kehrseite gemeinsamer Nähe vorgeführt: Verletzungen, Abhängigkeiten, Erniedrigungen und Machtspielchen erhalten dort besondere Brutalität, wo Menschen sich lieben. Unerträglich ist Cates aktives Erdulden von Ians Grausamkeiten: Er klopft chauvinistische Sprüche, beleidigt sie und zwingt sie zu Oralsex; Cate entschuldigt und bedankt sich.
»Wer will schon Kinder. Du bringst sie zur Welt, sie werden erwachsen, sie hassen dich, und du stirbst.«
Erotische Augenblicke zwischen Andrea Strube und Gabriel Raab
Im Zentrum der Göttinger Inszenierung steht allerdings nicht die Provokation. Knapp 20 Jahre nach der Uraufführung von Sarah Kanes Zerbombt in London geht es nicht darum zu schockieren. Rebellierte das junge britische in yer face-theatre der 90er Jahre mit viel nackter Haut und roher Gewalt gegen den konservativen Theaterapparat der Thatcher-Ära, sieht sich das Theater heute einem Publikum gegenüber, das breite Rezeptionserfahrungen mit Gewalt- und Sexualitätsdarstellungen besitzt. Mit Urin, Kot und Sperma auf der Bühne lassen sich gegenwärtig eben keine Tabus mehr brechen.
In yer brain!Die Inszenierung von Katharina Ramser weiß das alles. Es dauert keine fünf Minuten, schon sieht man auf der Bühne den ersten Penis. Die Inszenierung nackter Genitalien gehört nicht mehr zum Höhepunkt eines Stücks, sondern reiht sich wie selbstverständlich als eine von vielen performativen Handlungen in die Exposition der ersten Szene mit ein. Die Vergewaltigung zwischen Ian und Cate wird zwar nicht gespielt, aber durch Toneinspielungen (Sounddesign: Bernd Schumann) imaginativ evoziert. Damit beweist Katharina Ramser, dass ihr nicht an plumper Provokation gelegen ist – und dass sie ihr Publikum kennt: Wir haben Vergewaltigungsdarstellungen schon gesehen. Solche Bilder sind in unserem kollektiven Gedächtnis eingelagert und müssen nur durch gezielte, suggestive Stimulationen aufgerufen werden. In yer face radikalisiert sich zum in yer brain. Wir sehen mehr als auf der Bühne gezeigt wird. Denn ja, verdammt: die Gedanken sind frei.
Durch Andeutung zur Konkretion: Der Bühnen-Blowjob als Skandal
Das nach vorne hin abfallende und für das Publikum komplett einsehbare Hotelbett (Bühne: Elisa Alessi) ist nicht nur ein Bett, sondern in erster Linie ein Aufführungsort. Auch hier geht es nicht nur darum, einen Text auf die Bühne zu bringen, sondern dem Publikum Gedanken zuzumuten.
Die Selbstreferenzialität des postdramatischen Theaters
Machtkämpfe und emotionale Verrohung: Zerbombt bewegt sich am Rande der Darstellbarkeit menschlicher Gefühle
Das Stück endet mit dem Selbstmord des Soldaten, dem missglückten Selbstmordversuch Ians und dem Tod eines Babys, das zuvor Cate in Obhut genommen hat. Anders als in der Textfassung isst Ian zum Schluss nicht das tote Kind, sondern führt dem Publikum vor, dass das Baby nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Asche bestand. Indem diese basalen Inszenierungstechniken ausgestellt und vorgeführt werden, wird das Theater hier als ein Ort thematisiert, der Provokationen inszenieren oder wie im Falle des Babys: sogar verhandeln kann.
Der Inszenierung von Zerbombt gelingt zweierlei: Erstens stellt Katharina Ramser das Theater selbst in Frage und richtet sich damit, zweitens, gezielt an das Publikum: Wird hier nur gespielt – oder was?!