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Wo Milch und Farbe fließen

Soutines letzte Fahrt ist nicht nur irgendein Roman; vielmehr ist es Ralph Dutlis mehrfach preisgekröntes Kunstwerk über den weißrussischen Maler Chaim Soutine, der in Paris sein Glück gesucht und (nicht?) gefunden hat. Ein Delirium seiner letzten Momente in Farbe und mit Kontur.

Von Antje Dreyer

Der Maler Chaim Soutine ist krank, er hat seit Jahren ein Magengeschwür, das nun vor dem Durchbruch steht, er muss operiert werden. So einfach ist das jedoch nicht, schließlich ist es 1943, Frankreich von den Nazis besetzt und der Jude Soutine im ländlichen Umland von Paris, in Chinon, untergetaucht. Seine Freundin Marie-Berthe misstraut den dort ansässigen Ärzten und verlangt, dass der Maler in der Metropole operiert wird. In einem Leichenwagen versteckt soll man ihn dorthin bringen. Man ahnt nur, was einen auf den folgenden Seiten erwartet: Es ist die Lebensgeschichte Soutines, die er in seinen letzten Momenten unter Morphium-Einfluss Revue passieren lässt.

Buch


Ralph Dutli
Soutines letzte Fahrt
Roman
Wallstein, Göttingen, 2013
272 Seiten, 19,90 €

 
 

Das Delirium

Ralph Dutli, promovierter Romanist und Russist, hat vor seinem Romandebüt Soutines letzte Fahrt vorrangig als Essayist, Lyriker, Übersetzer und Herausgeber gearbeitet. Der Wechsel zu einer fiktionalen Gattung lässt Dutli jedoch nicht die Wurzeln seiner philologischen Ausbildung vernachlässigen, denn er verknüpft auf bemerkenswerte Weise gut recherchierte Geschichte und Erfundenes. Die Handlung beginnt am 6. August 1943, dem Tag, an dem Soutine in den Leichenwagen verladen wird. Die Ärzte verabreichen ihm Morphium für die deutlich zu lange dauernde Fahrt – über 24 Stunden – nach Paris. Durch das Delirium werden der Rezipientin zahlreiche, in keiner Weise chronologisch geordnete und zum Teil nur durch den roten Faden, Soutine selbst, zusammengehaltene Einblicke in dessen Kindheit, Bekanntschaften und die Entwicklung zum besessenen Maler gewährt: Erzählt wird von den Strafen des Vaters für Chaims erste malerische Versuche in Smilowitschi bei Minsk, wo er als zehntes von elf Kindern aufwächst. Erzählt wird auch vom Scheitern jeglicher Bestrebungen, ihn von der Malerei fernzuhalten. Und schließlich von der Ankunft des mittellosen Chaim Soutine in Paris und dessen hoffnungsvollem Aufstieg als Maler durch die Freundschaft mit Modigliani und der Entdeckung durch den Amerikaner Albert Coombs Barnes. Am Rande werden zudem Ereignisse der großen, äußeren Geschichte bruchstückartig aufgenommen: die Besetzung Frankreichs durch die Nazis und die damit zusammenhängenden Judenverfolgungen und –deportationen, der Zweite Weltkrieg.

Der Schmerz

Die kompositorische Zerrissenheit des Romans setzt narrativ verschiedene Inhalte direkt in die Form um: Soutine ist ein getriebener Maler, der sowohl beim Schaffen unbeobachtet bleiben möchte als auch im Anschluss daran, wenn er seine Bilder vernichtet, zerreißt, verbrennt. Daneben sind es auch die Verwirklichungsorte sowie seine Bekannten, Freunde oder Musen, deren Konstanz und Stabilität immer wieder unterbrochen wird. Und nicht zuletzt zerreißt schließlich sein schmerzhaftes Magengeschwür den Maler Stück für Stück – von innen. In ihrer Zerrissenheit bilden die Elemente dennoch eine Konstante in Chaim Soutines Leben, konstituieren sie als Schmerz doch dessen Zentrum:

Er hat Angst davor, ein anderer zu werden. Er wühlt sich in die alten Tücher der ersten Verletzungen, der schlimmsten Kränkung. Es kommt von dort. Du kommst von der Wunde her. Sie ist die Geburtsurkunde, der Pass fürs Leben. Du musst es hüten und bewahren, darfst es nicht vergeuden. Mit dem farbverschmutzten Daumen die Wunde offen halten. Die Narbe nicht schöner machen. Nichts desinfizieren.

Milch und Weiß, Rot und Leinwand dienen Soutine als Orientierung beim Verlassen bzw. Finden seiner Welt, mit deren Hilfe er sich schließlich dem allgegenwärtigen Schmerz stellt. Die Milch und ihre weiße Farbe offenbaren mit Voranschreiten der Erzählung immer stärker ihre ambivalente Bedeutung: Während sie für den Maler zunächst ein Mittel zur Beruhigung des Magens ist und ihre weiße Farbe das Paradies, den Himmel, die hellste Farbe, die das meiste Licht reflektiert, darstellt, transformieren sie sich zunehmend zu einem unbefriedigenden Versprechen von Heil und Glück in einem gefühllosen Gefängnis. Das Rot auf der Leinwand als Ausdruck seiner selbst und der Rebellion gegen ihn und die ihm auferlegten Pflichten scheint schließlich Soutines letzter Ausweg zu sein:

Er fiebert und flucht, verdammt die Leinwand – und findet endlich wieder in sein wahres und richtiges Leben zurück, zur Farbe, zum Auftrag der Materie, zur richtigen Wunde, zum einzigen Glauben, den es für ihn noch gab. Die Farbe ist unversöhnlich. Die Farbe ist die letzte Nachricht von der umfassenden Heillosigkeit. Sie ist die pure Rebellion gegen Doktor Bog.

Das Mysterium

Seit Kindestagen an hat Chaim Soutine immer wieder Rückschläge bezüglich seines Wunsches, Maler werden zu wollen, einstecken müssen. Und noch auf seiner letzten Fahrt wird er von den Bedrohungen seiner Identität verfolgt: Die mysteriöse Gestalt Doktor Bog, die Soutine den Schmerz nimmt, verbietet ihm zugleich, den Pinsel wieder zu erheben und droht gleichzeitig mit dem Tod, sollte er es dennoch wagen. Doch wer ist Doktor Bog eigentlich? Die Unzuverlässigkeit des von Morphium umnebelten Soutines, dessen Perspektive und Distanz immer wieder zu verschwimmen scheinen und kaum greifbar sind, erlaubt keine konsistente Einschätzung der Gestalt. Mit zunehmender Dauer der Reise gelangt der Maler jedoch immer stärker in den Sog der Klinik-Welt, die ein steriler, weißer Ort ist, frei von jedem Schmerz, ein Parallel-Universum. Doktor Bog ist darin der »Gott in Weiß«: Tatsächlich Gott? Schließlich hat dieser ihm gesagt: »Er ist geheilt«. Allwissend ist er zudem, spricht er doch von der Entdeckung des Helicobacter pylori im Jahr 1983. Ist Chaim Soutine tot? Im zeitlosen Paradies? Und warum darf er dann nicht mehr malen, wenn er doch schon tot ist?

Anstatt es bei einer simplen Heilung durch Sterben Chaim Soutines zu belassen, verstrickt sich die Erzählung nochmals. Dem besessenen Maler kann nicht ein einfaches Ende zugestanden werden. Im siebzehnten und letzten Kapitel von Soutines letzte Fahrt versucht auf einmal ein bisher unbekanntes Ich, Lösungsvorschläge zu geben: Es scheint derjenige zu sein, der Soutines Geschichte aufschreibt, die Introspektive einzunehmen wagt und folgenden Schluss zieht:

Wer der Kindheit entkommt, darf kein Paradies erwarten. A mentsch on glick is a tojter mentsch. Die einzige Erlösung gibt es nicht. Die einzige Lösung ist die Farbe. Sie ist die letzte mögliche Religion. Nein, ich hatte mich verschrieben: Rebellion. Ihre roten Heiligen sind: Zinnober, Karmesin, Drachenblut, Roter Ocker, Indischrot, Marsrot, Pompejanischrot, Purpur, Amarant, Kirschrot, Krapprot, Rubin, Inkarnat.

Das Glück

Dem Wirken Chaim Soutines, dessen hebräischer Name für das Leben selbst steht, wird ein eigener Sinn gegeben, unabhängig von Glaube und Religion. Das weiße, emotionslose Gefängnis des Paradies-Todes verhindert das pulsierende Glück des roten Höllen-Schmerzes, dessen sich der Maler hingibt. Das Rätsel findet jedoch erneut keine Auflösung, denn der Roman hält auf den letzten Seiten eine weitere, metaliterarische Überraschung parat, die das Projekt, Soutines letzte Fahrt zu schreiben – so viel Sinn, wie dem Leben, Wirken und Tod Soutines auch im Vorhinein zu geben versucht wurde –, hinterfragt.

Meisterhaft auf allen Ebenen bereitet Dutlis »Erstling« vielleicht nicht jedem Leser Genuss, muss man sich doch auf den expressionistischen Stil einlassen, der das Werk Soutines in einer subtilen Weise sprachlich nachahmt. Zweifellos legt die komplexe Komposition des Romans jedoch einen Zugang zum Miterleben und Mitfühlen, der die Wirren des Deliriums in der verschwommenen Perspektive und die Besessenheit des Malers vermittelt. Wenn man meint, ein geschlossenes Ganzes in den Händen zu halten, so irrt man: Auf faszinierende Weise gelingt es dem Autor, viele kleine Bruchstücke mit zahlreichen Leerstellen ineinander zu verweben und derart ein poetisches Rätsel hervorzuzaubern, das Lust auf mehr Romane Dutlis macht.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 14. Januar 2016
 Kategorie: Belletristik
 Chaïm Soutine. 1893-1943. Paris. von jean louis mazieres via Flickr
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