Astrid Lindgrens Ronja Räubertochter feierte im Theater im OP Premiere. Michelle Rodzis tauchte in die Welt des Mattiswaldes mit seinen wunderbaren Geschöpfen und Bewohnern ein und befindet: eine dynamische Inszenierung, die nicht nur durch Ronjas Frühlingsschrei geballte Lebenslust vermittelt.
Von Michelle Rodzis
Am Abend der Premiere von Ronja Räubertochter liegt der Altersdurchschnitt im ThOP ungewöhnlich tief, denn viele, viele Kinderaugen leuchten erwartungsvoll in den Zuschauerrängen. Von der Aufführung des beliebten Kinderbuchklassikers von Astrid Lindgren werden große und kleine Kinder angelockt, um die Helden ihrer jungen Jahre auf der Bühne zu sehen.
Das Stück, das auf der Buchvorlage der schwedischen Kinderbuchautorin beruht, erzählt die Geschichte von Ronja, die die Tochter des Räuberhauptmanns Mattis und dessen Frau Lovis ist. Das Mädchen erlebt auf der Mattisburg, die im Mattiswald gelegen ist, mit ihren Eltern und anderen Räubern unbeschwerte Tage, bis sie eines Tages am Höllenschlund auf Birk Borkasohn trifft, den Sohn des verfeindeten Räuberhauptmanns Borka. Die beiden Kinder schließen schnell Freundschaft miteinander und müssen diese gegen die alte Clanfeindschaft behaupten, was die Bindung zwischen Eltern und Kindern auf eine harte Probe stellt. Ronja Räubertochter ist eine Geschichte des Lernens: Eltern lernen, ihre Kinder loszulassen, sie eigene Entscheidungen treffen zu lassen und diese auch zu akzeptieren. Die Kinder wiederum lernen, dass Altes nicht immer Bewährtes ist, dass man auch in engen Freundschaften Konflikte austragen und bewältigen muss.
Das Lernen gestaltet sich allerdings nicht immer als einfach: Immer wieder machen die beiden Kinder Ronja und Birk die Erfahrung, wie schwer es letztendlich ist, das bisher Gelernte hinter sich zu lassen und stattdessen auf sein eigenes Bauchgefühl zu vertrauen. Dabei muten ihre Dialoge, die sich stark an der Buchvorlage orientieren, bisweilen alles andere als kindlich an, sondern erinnern schon an eine Partnerschaftsbeziehung, die Höhen und Tiefen erlebt. Denn häufig verschwimmt die Grenze zwischen einer inniger Freundschaft und einer Beziehung der beiden Kinder an der Schwelle zur Pubertät, was auch von den Figuren innerhalb des Stücks wahrgenommen wird: »Man weiß ja, was in ein paar Jahren daraus wird«, merkt Birks Mutter Undis an, als die beiden Kinder ihre geschlossene Geschwisterschaft bekennen. Es bleibt dem Zuschauer also überlassen, ob er die intensive Bindung zwischen Ronja und Birk lediglich als Freundschaft betrachtet oder schon weiter spinnt.
Die Inszenierung von Ronja Räubertochter ist sehr dynamisch gestaltet. Die Orte wechseln oft, und das große Ensemble ermöglicht es auch, die große Bandbreite an gefährlichen und wundersamen Wesen im Mattiswald abzubilden. Mit Hilfe von nur wenigen Blöcken auf der Bühne werden im Kopf der Zuschauer die unterschiedlichen Handlungsorte skizziert und können mit wenigen Handgriffen umgestaltet werden: Die Mattisburg verwandelt sich mit ein paar Organza-Streifen in den Mattiswald, der Höllenschlund entsteht vor den Augen der Zuschauer durch eine geschickte Anordnung von Blöcken und dem Einsatz von rotem Licht. Auf diese Weise entsteht genug Plastizität, um eine Verortung auch für die kleinen Zuschauer nachvollziehbar zu machen.
Aber nicht nur durch das Bühnenbild gewinnt Ronja Räubertochter an Atmosphäre. Einen großen Beitrag hierzu leistet die Göttinger Band Nindriel, die die Inszenierung musikalisch untermalen. Mit instrumentalen Varianten von Schandmaul, Subway to Sally u.v.m. unterstreichen, aber erschaffen sie auch den träumerisch-rauhen Hauch, der das Stück umgibt, und versüßen dem Zuschauer quasi nebenbei die Wartezeit während der Umbaumaßnahmen. Unterstützt werden sie dabei durch zusätzliche Gitarren- und Geigeneinlagen.
Die Atmosphäre, die das Stück hervorbringt und umgibt, ist auch den Schauspielerleistungen geschuldet. Die Darsteller wirken während der ganzen, etwa zweieinhalb Stunden umfassenden Spieldauer überaus präsent, sodass sie vom ersten Augenblick vollkommen mit ihrer Rolle verschmelzen. Im Zuschauerraum gibt es keinerlei Schwierigkeiten, sofort in die fiktionale Welt des Mattiswaldes einzutauchen, dessen Menschen und Wesen mit liebevoll ausgestalteten und detaillierten Kostümen mal in amüsanter, mal in angsteinflößender Optik auf die Bühne geholt werden und vor Lebendigkeit und (meistens auch) Witz nur so strotzen.
Gerade diese Lebendigkeit repräsentiert die Figur Ronja, die teilweise noch typisch kindliche Verhaltensweisen aufzeigt, indem ihre Stimmungen zwischen den beiden Extrema Fröhlichkeit und Sturheit schwanken. Zwar ist Birk auch noch nicht vollständig erwachsen, scheint aber wesentlich reifer zu sein als Ronja und weitaus differenzierter zu denken. Die Spannung zwischen Kindheit und Erwachsenenalter wird zudem durch die Schauspielerwahl intensiviert: Birk überragt Ronja, sodass unweigerlich die Überlegung angestoßen wird, wie das Verhältnis der beiden Räuberkinder zueinander gedeutet werden muss.
Doch unabhängig von dieser Frage schafft es Ronja Räubertochter geballte Lebenslust zu vermitteln: Sei es durch die pure Vitalität der beiden Räuberkinder, sei es durch Ronjas gellenden Frühlingsschrei, oder durch die Erkenntnis, dass Birk und Ronja das Gute und Richtige für sich entdecken und ihren Herzen bedingungslos folgen. In Zusammenhang mit Astrid Lindgrens Roman Pippi Langstrumpf, der 1945 veröffentlicht wurde, wird oft der Satz »Lass dich nicht unterkriegen, sei frech und wild und wunderbar!« zitiert. Auf unsere beiden Räuberkinder Ronja und Birk trifft er alle mal zu. Aber wunderbar sind alle Geschöpfe und Bewohner des Mattiswaldes, der vorübergehend seine Heimat im ThOP gefunden hat.