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Zwischen Lieben und Leiden

Lohnt es sich, für die Liebe zu leiden? Dieser Frage geht Julian Barnes in seinem neuesten Roman Die einzige Geschichte auf kluge, aufmerksame und verblüffende Weise nach, wenn er von der denkwürdigen Beziehung zwischen dem 19-jährigen Paul und der 48-jährigen Susan erzählt.

Von Laura Henkel

Jede*r von uns hat eine Geschichte, die wichtiger ist als alle anderen Geschichten, die er*sie erzählen könnte. Nur diese gilt es zu erzählen. Für Paul ist diese Geschichte seine Liebe zu Susan, die mit einer schicksalhaften Begegnung eines 19-jährigen, idealistischen Studenten und einer 48-jährigen, lebenserfahrenen Frau beginnt. Und so handelt der neue Roman des britischen Schriftstellers Julian Barnes von dieser einzigartigen Beziehung, die für Paul genau das ist, was der Titel verspricht: Die einzige Geschichte.

Barnes macht Paul nicht nur zu einem der beiden Protagonisten des Romans, sondern auch zum Erzähler der Geschichte. Im Laufe seines Lebens erkennt Paul, dass er viele Facetten seiner Liebe zu Susan erst im Nachhinein verstehen kann. Er erzählt seine Geschichte erst als älterer Mann, der auf seine Jugend zurückblickt, zu einem Zeitpunkt, an dem die Beziehung zu Susan schon Jahrzehnte zurückliegt. In seiner Erzählung geht er chronologisch vor und bietet den Leser*innen somit die Gelegenheit, die Geschichte von vorne bis hinten mitzuerleben, während sie zusätzlich an Pauls Reflexionen über seine Erlebnisse und Gefühle teilhaben können.

Mehr als nur eine Sommerromanze

Paul verbringt seine ersten Semesterferien in einem langweiligen Londoner Vorort bei seinen Eltern. Da er an den heißen Sommertagen nichts mit sich anzufangen weiß, folgt er schließlich dem Rat seiner Mutter, zum Tennisclub zu gehen. Dort trifft er Susan – eine Frau mittleren Alters, witzig, gut gelaunt und unkompliziert. Die beiden kommen schnell ins Gespräch und verstehen sich trotz ihres großen Altersunterschiedes prächtig. Und so beginnt Paul, Susan nach den gemeinsamen Tennisstunden manchmal nach Hause zu fahren. Die Fahrten werden häufiger, und so kommt es zu einem ersten Kuss zwischen den beiden, der den Beginn ihrer Affäre besiegelt.

Über den Sommer hinweg geht Paul bei Susan ein und aus, verbringt Tage und Nächte mit ihr und stolpert so immer wieder reichlich ungestüm in das Familienleben seiner Geliebten hinein. Denn Susan ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Sie führt eine Ehe zu einem Mann, den sie nicht liebt, aber den sie dennoch lange Zeit nicht zu verlassen bereit ist. Dann entschließt sie sich doch, mit Paul zusammen nach London zu ziehen. Paul setzt dort sein Jurastudium fort, das ihn zeitlich erheblich in Beschlag nimmt, sodass Susan ihn nur noch abends und an den Wochenenden zu Gesicht bekommt.

Während Paul also angestrengt versucht, den Anforderungen seines Studiums gerecht zu werden, verbringt Susan ereignislose Tage und Wochen im gemeinsamen Haus. Sorgen und Probleme aus ihrer Ehe, die sie nach wie vor nicht geschieden hat, und der Beziehung zu Paul, die sich durch Pauls Abwesenheit und Susans ungeklärte Situation ergeben, lassen sie schließlich immer häufiger zum Alkohol greifen. Von diesem Zeitpunkt an nimmt die Geschichte eine tragische Wendung, die kaum aufzuhalten, aber zugleich fesselnd zu lesen ist.

Geschickte Perspektivwechsel

Zu Beginn des Romans stellt Barnes seinen Leser*innen eine direkte Frage, die alles andere als einfach zu beantworten ist:

Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und dafür weniger leiden?

Diese Frage ist für den Roman und insbesondere für Paul von zentraler Bedeutung. Rückblickend reflektiert Paul sein Verhalten und schildert Gedanken und Emotionen mit einer beeindruckenden Ehrlichkeit. Barnes lässt Paul in einem ruhigen Ton erzählen, der für die Handlung des Romans sehr angemessen ist. Schließlich berichtet hier ein alter Mann über seine prägendsten Erfahrungen, die ihn immer wieder wichtige und unumgängliche Fragen des Lebens berühren lassen, wodurch die Geschichte auch eine philosophische Komponente erhält: Wofür lohnt es sich, zu leiden? Was ist die Liebe, und was macht sie mit uns? Wie müssen wir mit ihr umgehen, um sie zu bewahren?

Ein eleganter Kunstgriff gelingt Julian Barnes innerhalb des Romans, indem er Paul zweimal die Perspektive wechseln lässt: Der Autor beginnt mit einem sehr persönlichen Ich-Erzähler in Gestalt von Paul, der sich als älterer Mann in die Gefühls- und Gedankenwelt seiner Jugend hineinzuversetzen versucht und in einem passenden Ton erzählt: Paul berichtet detailreich, mitunter humorvoll von seinen Erlebnissen, wobei er immer wieder jugendliche Naivität, Abenteuerlust und Idealismus durchscheinen lässt. Paul wirkt nahbar und sympathisch, sein Erzählen nachdenklich, aber zugleich locker und unbeschwert.

Nach einem einschneidenden Ereignis, das geschieht, nachdem das Liebespaar bereits das gemeinsame Haus in London bezogen hat, wechselt Barnes im zweiten Teil des Romans in die Du-Perspektive. Paul scheint nun

Buch


Julian Barnes
Die einzige Geschichte
Kiepenheuer & Witsch: Köln 2019
304 Seiten, 22,00€

 
 
zu sich selbst oder auch direkt zum*zur Leser*in zu sprechen, sein Tonfall wirkt forsch und ruppig, an manchen Stellen fast anklagend, und er beginnt, nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit Susan, ihrem Mann und anderen Menschen aus seinem Leben hart ins Gericht zu gehen.

Der dritte Teil des Romans wird schließlich in der dritten Person geschildert, der Tonfall wird wieder milder und umgänglicher, Paul reflektiert mehr denn je über die Liebe sowie die wichtigsten Entscheidungen und Ereignisse seines Lebens und erzählt, wie die Geschichte zwischen Susan und ihm zu einem Ende gekommen ist. Durch die Er-Perspektive baut Barnes gezielt Distanz auf, die nicht nur in einer Distanz Pauls zum Geschehen besteht, das für ihn in der Vergangenheit liegt, sondern auch in einer Distanz zu Susan, die er braucht, um die Erzählung seiner Geschichte abschließen zu können.

Mangelnde Charaktergestaltung

Eine eindeutige Antwort auf seine Frage, ob es sich eher lohnt, mehr zu lieben und dafür mehr zu leiden oder aber weniger zu lieben und dafür weniger zu leiden, kann Paul letztlich nicht finden. Doch Barnes gelingt es, in einem flüssigen Stil und einer eleganten Sprache zu zeigen, dass jede Liebesgeschichte einzigartig ist. Der Autor meistert einen erzähltechnischen Balanceakt, indem er gelungen und glaubwürdig von der tragischen Geschichte Pauls und Susans berichtet, dabei aber über die bloße Schilderung einer Liebesgeschichte hinausgeht, indem er dem Roman mit philosophischen Reflexionen über fundamentale menschliche Emotionen eine starke Tiefgründigkeit verleiht.

Lediglich zwei Aspekte hätten den Roman noch runder machen können: Zum einen wirkt die Szenerie zu Beginn der Handlung stark klischeebehaftet, die Schilderung des Londoner Vororts und seiner Bewohner*innen ist stellenweise überzeichnet und macht den Kontrast, in dem Susan in Pauls Wahrnehmung zu den anderen Menschen steht, so mitunter unglaubwürdig.
Zum anderen verleiht der Autor ausgerechnet Susan, die neben Paul die wichtigste Rolle innerhalb des Romans einnimmt, keinen durchdachten und fein ausgestalteten Charakter; alles, was Leser*innen an Information geboten wird, sind Auszüge von Berichten über Susans vergangenen Liebschaften und ihre komplizierten Beziehungsverhältnisse. Nach der Lektüre kann der Eindruck entstehen, Barnes habe gemeint, rund um Susan aufgrund ihrer vielfältigen Eheprobleme und anderer schwieriger Angelegenheiten genügend Stoff für den Roman geschaffen zu haben.

Zwar ist die Geschichte aus Pauls Sicht erzählt und gewährt damit ohnehin nur begrenzt Einblicke in Susans Gedanken- und Gefühlswelt. Doch gerade dadurch, dass Susans Worte und Taten Paul häufig rätseln lassen und ihn vor unbeantwortbare Fragen stellen, wünscht man sich als Leser*in, mehr von Susan zu erfahren. Denn so lässt das Vorgehen, das Barnes für Die einzige Geschichte gewählt hat, Leerstellen, die der*die Leser*in allein nicht zu füllen vermag.



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 Veröffentlicht am 8. Juli 2019
 Kategorie: Belletristik
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