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Achter Ozean

Abseits aller Shanty-Chöre und Schifferklaviere haben junge deutschsprachige Musiker das Meer für sich entdeckt. In ihren Liedern holen sie die alte Jungfer Sehnsucht aus der Backskiste und erneuern sogleich ein ganzes Genre.

Von Ole Petras

Man stelle sich vor: Samstagabend, volles Haus im Störtebeker. Zwei Dutzend Schiffer ringen mit der Schwerkraft. Ein Mann mit Elbsegler hebt lässig das Bein auf eine Holzbank und beginnt mit tiefer Stimme zu singen: »Jimmy Brown, das war ein Seemann / und das Herz war ihm so schwer / doch es blieben ihm zwei Freunde / die Gitarre und das Meer.« Ob Freddy Quinn, von dem die obigen Verse stammen, der »Capri-Fischer« Rudi Schuricke oder Hans Albers – stets begleitet das Auslaufen eines Schiffes ein Lied, stets finden die Heim- und Fern- und Sehnsüchte der Seeleute Ausdruck in der Musik. Aber nicht nur sie, die Matrosen und Küstenbewohner, lauschen den brandenden Fluten. Vor allem der deutsche Nachkriegsschlager erkor die See zu seiner politisch unverfänglichen Geliebten und ruinierte damit einer ganzen Generation von Musikern das Thema. Seither war nahezu jeder Song vom Meer mit dem bierseligen Sentiment des Wirtschaftswunders belegt. Rainer Moritz beschreibt in seinem Buch Und das Meer singt sein Lied überaus kenntnisreich, wie sich die »Schlager von Sehnsucht und Ferne« als bundesrepublikanische Sozialstudie lesen lassen.1 Unterdessen ist die damalige Populärkultur längst in kulturelles Wissen übergegangen und steht – mal mehr, mal weniger subtil – neuen Stücken zur Verfügung. Es lohnt sich ein Blick in die jüngere Vergangenheit.

»An der Nordseeküste«

Da wäre zum Beispiel Willem und seine bereits augenzwinkernde Replik auf alle großen und kleinen Abschiede im Leben eines Seemanns: »Grüß mir den Herbert, Hein und Jan und mach kein’ Scheiß mit Fred! (Ach, Erika …)«. Wilken Dincklage, so Willems bürgerlicher Name, nutzte 1973 die wohl letzte Gelegenheit, das Klischee vom liebenswerten Seetölpel zu kultivieren, bevor 1984 Klaus und Klaus mit »An der Nordseeküste« vor allem Festzelte in Dünung versetzten. Von diesem neuerlichen Makel des Klamauks hat sich das Motiv schwer erholen können. Noch zehn Jahre später betexten Die Fantastischen Vier aus Stuttgart den »Tag am Meer« als eine zeitlose und dementsprechend abstrakte Erfahrung: »Es gibt nichts zu verbessern / nichts was noch besser wär / außer dir im Jetzt und Hier / und dem Tag am Meer.« An die Stelle des Spiels mit maritimer Symbolik trat lange Zeit eine schlichte Metaphorik des Meeres, welche die unberührte Natur dem hektischen Leben in der Stadt gegenüberstellte und es dabei bewenden ließ.

»Am Ende das Meer«

Allmählich aber erholen sich die Motive. Zahlreiche junge Bands aus Deutschland nutzen die suggestive Kraft des Meeres, um Dinge sagbar zu machen, die nach großen Gesten verlangen. In ihren Texten begegnen sowohl individuelle Schicksale als auch kollektive Mythen, begegnet eine biedermeierliche Langeweile genauso wie die romantische Verklärung des Ozeans. Eines aber bleibt unbestritten: die Unendlichkeit und schier unendliche Gewalt des Wassers. Das Meer verkörpert alles, was nicht zu ändern ist, sich nie ändern wird. Damit eignet es sich ideal zur Darstellung wesentlicher Stoffe. Von Glaube, Liebe, Hoffnung ist die Rede und vielleicht auch von der Wut.

Der Autor

Ole Petras ist Mitarbeiter am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der Universität Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte: Theorie und Praxis der Popmusikanalyse sowie Lyrik der Moderne. Weitere Informationen auf seiner Homepage.
 

Weiterlesen

Zum Weiterlesen der Hinweis auf eine Analyse unseres Autors zu „Narrativen des Glaubens“ in britischer Popmusik der 1990er Jahre: www.textem.de/1676.0.html
 
 
So besingt der Schauspieler Jürgen Vogel mit seiner Hansen Band, einem anlässlich von Lars Kraumes Film Keine Lieder über Liebe (2005) ins Leben gerufenen Projekt, den »Strand« als einen Ort jugendlicher Initiation: »Erinnerst du dich, als wir noch Jungen waren / und an der See die größten Burgen gebaut haben / wie die Sonne langsam ging und die Flut langsam kam / und die Wellen ohne Gnade uns langsam alles nahmen?« Der Bau einer Sandburg wird hier zur Verlusterfahrung, die auf den zukünftigen Ernst des Lebens einstimmt. Die Jugend wird buchstäblich »aus dem Wasser auf die Erde / rein geworfen in das Leben«, wie Peter Hein in »Am Ende das Meer« vom Album Handbuch für die Welt der Fehlfarben bemerkt.

Ganz ähnlich verfahren Schrottgrenze aus dem niedersächsischen Peine. Auch für sie ist die Erinnerung an den obligatorischen Urlaub am Meer vornehmlich negativ besetzt, jedoch aus anderen Gründen. »Da bist du in den Ferien deiner Eltern / so wie ich und das war ‘85/ du feierst den Bestand ihrer Ideen / in einem Clubstrand-Eiscafé«, heißt es in ihrem Lied »Am gleichen Meer« von 2006. Die Monotonie des elterlichen Lebens bindet sich an das nötige Zubehör, hier in Form von Speiseeis: »Und in den Kugeln ist Hass drin, früher wie heute / und die Kurtaxe von Morgen / zahlen mit Sicherheit die gleichen Leute / am gleichen Meer.« Man beachte den doppelten Blick auf das Geschehen. Einerseits wird die Zähmung des Meeres zum »Clubstrand-Eiscafé« mit der Erziehung in eins gesetzt. In dieser Lesart erfolgt das Aufbegehren des Teenagers. Andererseits offenbart das unaufhörliche Für und Wider der Wellen am Strand genau jene bürgerliche Langeweile, der es zu entfliehen gilt. »Segel dein Schiff in einen sicheren Hafen / das Schönste was du machen kannst im Leben ist Schlafen« empfehlen da die Berliner Elektroniker vom Jeans Team nicht ohne ein Schmunzeln.

»Wellen der Liebe«

Wo das rebellische Potential des Meeres zur Sprache kommt, kann auch die Liebe nicht weit sein. »Halt still / das Bett ist ein Floß / und ich will / raus auf’s Meer / komm schneid es los« singen Wir sind Helden in dem Song »Echolot«. Auch hier spielt die Entgrenzung eine zentrale Rolle. Die Erotik wird dann zum Abenteuer, verlässt man die Abdeckung des Landes und treibt auf den »Wellen der Liebe« (Blumfeld). Der Partner selbst ist der Horizont. Dass das unbedingt vertrauensvolle Miteinander auf See gleichwohl nicht ohne Risiko ist, wissen MIA.: »Wär deine Liebe ein Boot / ich würde sinken«, klagt Sängerin Mieze in »Floss«.

Bezeichnenderweise feiert die maritime Symbolik ihr Comeback gerade im Zusammenhang der Liebesthematik. Die Freiburger Geschmeido kleiden die erhoffte Rückkehr des Geliebten in bekannte Worte: »Ein Schiff läuft ein / es steht am Pier / was dich verließ / kehrt heim zu dir.« Und Nils Koppruchs inzwischen leider aufgelöste Band Fink entwickelt in dem Stück »Wie ein Schiff« von 2001 eine ganze Hafen-Szenerie um den Vergleich eines Briefes mit einem einlaufenden Schiff.

Heute kam ein Brief rein wie ein Schiff
und der Himmel zeigt ein lachendes Gesicht
und die Sonne funkelt in der Gischt
und Blumen stehen auf dem Tisch
und der Hafen wurde extra ausgefegt
die von den Docks können heute eher nach Haus
und einer gibt für frei Getränke aus
dieser Tag ist ein Geschenk
sie haben Fahnen rausgehängt
und am Pier sind Buden aufgebaut

Der Text klingt um manches tiefer, ergänzt man den historischen Hintergrund. In Zeiten, als die Rückkehr des Seemanns noch ebenso ungewiss war wie die soziale Absicherung der Familie im Fall seines Todes, begleitete jede Einfahrt in den Heimathafen ein Stoßseufzer. Es ist ein ganzheitliches Modell der Liebe, das Fink hier aufrufen, und zugleich eine Beschreibung der unerbittlichen Gewalten der See.

»lasst uns ein Meer sein«

Unzweifelhaft reizt die Gleichzeitigkeit von größter Angst und höchstem Glück zur Mystifizierung des Meeres. »Ein Geisterschiff treibt still umher / irgendwo im weiten Meer / wir sind Piraten ohne Ziel / wir haben nichts mehr zu verlieren / halte durch, bleib noch hier / bleib bei mir«, singen Madsen auf ihrem Album Goodbye Logik von 2006. Eindrucksvoll verbinden sie im Topos des »Piraten« die soziale Utopie des Punk, wie sie sich unter anderem in der klassenlosen Gemeinschaft der Likedeelers um Klaas Störtebeker zeigt, mit der Atopie moderner Kunst. Das Meer liefert zugleich das Modell eines Nicht-Ortes, an dem der Nonkonformismus zu einer romantischen Vorstellung von Totalität verklärt werden kann, eben weil die gesellschaftlichen Mechanismen gänzlich außer Kraft gesetzt sind.

Und so ist die See bisweilen eine Art subkultureller Märchenwald. Tocotronic bereisen nicht nur die sieben bekannten Weltmeere: »Ein kleines Boot / ein kleiner Kahn / auf dem achten Ozean / von hier hört mich / das Weltall an.« Der Titel des dazugehörigen Albums liest sich wie die erste Regel zum Spinnen von Seemannsgarn: Pure Vernunft darf niemals siegen. Gerade weil das Meer sich nicht auf ein Merkmal reduzieren lässt, weil es seine eigenen Gesetze kennt und auch sprachlich unbeherrschbar scheint, ist eine Identifizierung mit ihm so interessant. Die Band Silbermond etwa erkennt im nassen Element das unbedingte Kollektiv und liefert die entsprechende Losung gleich mit: »Wir könnten viel mehr sein / lasst uns ein Meer sein.«

»Dein Kreuz in den Sturm«

Aus dieser Bewegung heraus sind die Versuche zu verstehen, aus der Empfindung der Naturgewalten lebenspraktische Wahr- und Weisheiten abzuleiten. Herbert Grönemeyer beschreibt in »Zum Meer« den Spaziergang an der See als ein fast religiöses Erlebnis: »Dreh dein Kreuz in den Sturm / wirst dich versöhnen, wirst gewährn / Selbstbefreien für den Weg zum Meer.« Man riecht förmlich das Salz dieser Erde. Die Hamburger Band Blumfeld geht noch einen Schritt weiter und beschwört gleich Rasmus, den Gott der Winde: »Sturm, weh wild und frei / sing mir dein Lied / zeig mir den Dreh / Sturm auf hoher See / mach dass es geschieht / brich die Deiche entzwei.« Zuletzt präsentiert sich der Künstler nur noch als ein Sprachrohr. »Der Sturm« selbst wird aufgefordert, sein Lied zu singen, es geschehen zu machen, und wir armen Sünder können dem nur noch beiwohnen.

Eine Erdung dieses emphatischen Entwurfs findet sich bei der ebenfalls aus Hamburg stammenden Band Kettcar. Sie stellt den jedem Heringsfischer zur Ehre gereichenden Befund: »Deiche brechen richtig / oder eben nicht.« Auch der trockene Spruch gehört zum Klischee des wortkargen Küstenbewohners, der alles immer ein bisschen pragmatischer sieht als die staunenden Touristen (und Dichter). Die wahrscheinlich endgültige Antwort auf das Sie-wissen-schon von der roten Sonne, die bei Capri im Meer und-so-weiter aber gibt Thees Uhlmann mit seiner Band Tomte im Lied »Die Schönheit der Chance«:»Das ist nicht die Sonne die untergeht / sondern die Erde die sich dreht.«

Neue Ufer

Und wie heißt es so schlicht in Klaus und Klaus’ Manifest des norddeutschen Frohsinns: »Nach Flut kommt die Ebbe, nach Ebbe die Flut.« Tatsächlich scheint es, als folge auf die Inflation des Motivs vom sehnsüchtigen Seemann zunächst die Springflut des Klamauks. Dann zieht sich das Wasser zurück und hinterlässt das Watt plan und trocken vor unseren Augen. Was kommt dann? Die schüchterne Rückeroberung des verlorenen Terrains, schließlich die vollmundige Beschwörung der See als heilsbringende Kraft. Und irgendwie ist es doch das alte Lied. Aber ein solches, das wir gerne hören, das noch immer im Ohr klingt, wenn wir am Sonntagmorgen aus dem Störtebeker in Richtung Anleger wanken auf einen Absacker ins Hafenbecken.

  1. Rainer Moritz: Und das Meer singt ein Lied. Hamburg: marebuchverlag 2004.


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 Veröffentlicht am 9. April 2010
 Kategorie: Misc.
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 Foto von Peer Trilcke
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 3 Kommentare
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3 Kommentare
Kommentare
 alena diedrich
 9. Juni 2010, 13:28 Uhr

Klasse Artikel! Sehr schön dazu auch Element of Crime in “Vier Stunden vor Elbe”:

“Wird dir auch schlecht, über die Reling halte ich dich gerne.
Ein Ritt auf tausend Tonnen Stahl fordert seinen Preis.
Und alt wie der Mensch ist die Sehnsucht nach der Ferne.
Diesmal, mein Herz, diesmal fährst du mit.

Scheiss doch auf die Seemannsromantik.
Ein Tritt dem Trottel, der das erfunden hat
Niemand ist gern allein mitten im Atlantik
Diesmal, mein Herz, diesmal fährst du mit”

 Donnie
 23. Juni 2010, 11:44 Uhr

Toller Text! Und sehr schön dazu auch der Herr Rachut:

“Verdammt noch mal – wann reißt es endlich auf
seit 3 Std. hängt er blöde jetzt im Nebel rum
eine Angst befällt sein Körper wie die Muscheln seinen Kahn
nur das Tuckern von dem Diesel ’ne Bedrohung naht heran.

Sie kommen aus Japan
Sie kommen aus Murmansk
Ihre Netze länger als der größte Fjord
Und sie fischen alles weg – kein Leben weit und breit
Er ist sauer, weil man Sand nicht essen kann

Fangquoten schön und gut doch nichts für Sergé Bailmann
nur die Möwen sehn, daß er jetzt richtig weint
seit über 30 Jahren fischt er in diesem Fjord
mit den Reussen, den Krebsen und das Meer

Sie kommen aus China
Sie kommen von überall!!
Ihre Netzte länger als der Weg zum Mond
und sie fischen alles weg – kein Leben weit und breit
Er ist sauer, weil man Sand – niemals wirklich essen kann”

 Daike-Marie Kracke
 24. Dezember 2011, 23:38 Uhr

Und vor allem: Gut geschrieben.

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