Mit einer Polemik (in der Zeit vom 16. Februar 2014) löste Florian Kessler einen feuilletonistischen und sozialmedialen Netzwerkeffekt aus, der sich selbst u.a. als ›Gegenwartsliteraturdebatte‹ beschrieb (siehe u.a. Litlog vom 16.2.2014). Im Literaturclub Düsseldorf suchen heute Abend (Dienstag, 6. Mai) Marcus S. Kleiner und Peer Trilcke mit dem Moderator Enno Stahl »Die Debatte zur Debatte«. Eröffnet wird die Veranstaltung durch Stellungnahmen der Diskutanden. Die folgende (mündliche) Stellungnahme von Peer Trilcke erscheint hier.
Man hat mich, so habe ich es verstanden, zu dieser Diskussion eingeladen, um den Blick der Literaturwissenschaft auf die diesjährige Literaturdebatte wenn nicht zu repräsentieren, so doch zumindest zu vertreten.
Das aber ist gar nicht so einfach. Denn die wissenschaftliche Beobachtung des gerade Gegenwärtigen birgt so ihre Tücken – zu flüchtig, zu sehr noch in Bewegung sind die Phänomene, zu unübersichtlich und nah ist das Geschehen, zu groß die Gefahr, die nötige Distanz zu verlieren, ja überhaupt nicht gewinnen zu können. Auf der anderen Seite jedoch muss sich eine Literaturwissenschaft, die nicht allein historische Forschung betreiben will, immer auch an dem messen lassen, was sie zum Verständnis, ja vielleicht sogar zur Erkenntnis der gegenwärtigen Verhältnisse beitragen kann.
Getrost vergessenWendet man sich in diesem Sinne der zurückliegenden Literaturdebatte zu, stellt sich allerdings für mich zunächst die Frage, ob diese Debatte überhaupt ein Erkenntnispotenzial birgt. Denn tatsächlich war, beschränkt man sich auf den ernsthaften Teil der Debatte, im Grunde keines der ins Feld geführten Argumente, war keine der vorgetragenen Beobachtungen wirklich neu. Dass Florian Kessler einige dieser altbekannten Beobachtungen rhetorisch geschickt inszeniert hat, ändert daran nichts. Wiederholt wurden hier wie weithin im Wesentlichen nur gut abgehangene, jedenfalls kaum überraschende Positionen: da ging es zum Beispiel wieder einmal um die vermeintliche Konformitätsinstitution ›Schreibschule‹; oder aber man wies auf die Ökonomisierung des Buchmarktes hin, so als überkäme diese uns erst seit Kurzem; oder aber es ging darum, dass das Schriftstellersein eine spezifische Form der sozialen Existenz ist, auf die man sich mit einem bildungsnahen Lebensweg ganz sicher besser einlassen kann. All diese Positionen sind aus wissenschaftlicher Sicht erwartbar, sind bereits diskutiert; man kann jedenfalls nicht sagen, man habe das nicht bereits ein- bis zweimal gehört. – Dass der sogenannte Literaturbetrieb in dieser Debatte also so etwas wie eine höhere Bewusstseinstufe erreicht hätte, sehe ich nicht.
Entsprechend folgenlos scheint die Debatte denn auch gewesen zu sein; man hat sich eine Zeit lang echauffiert, war durchaus dankbar für die Ablenkung vom Einerlei des feuilletonistischen business as usual, musste dann aber auch wieder zum Tagesgeschäft zurückkehren; so etwas führt ja letztlich zu nichts. Dieser typische Verlauf macht dabei noch etwas Weiteres deutlich, denn tatsächlich brachte die Debatte nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell nichts Neues: Sie war eine kurze, weitgehend autonome Phase des kommunikativen Ausnahmezustandes innerhalb bestimmter Medien und Netzwerke; und sie war vorbei, als sich jenes Erregungspotenzial erschöpfte, das von der sozialmedialen wie auch von der massenmedialen Aufmerksamkeitsökonomie erwartet wird.
Will man die Debatte nicht, unspezifisch, ›Literaturdebatte‹ oder, sehr spezifisch, nach ihrem Auslöser ›Kessler-Debatte‹ nennen, dann könnte man sie, zumindest in Teilen, als ›Realismusdebatte‹ bezeichnen. Verhandelt wurde nicht zuletzt, wie sich die gegenwärtige Literatur insbesondere zur sozialen Realität des 21. Jahrhunderts verhält und verhalten könnte, vielleicht sollte. Mit der Frage nach einem literarischen Realismus ist nun aber eines der Grundthemen der literarischen Diskussion der letzten zwei bis drei Jahrhunderte angeschnitten; diese Debatte hat also eine lange Vorgeschichte.
Dabei sollte man meines Erachtens zwei Aspekte unterscheiden: Zum einen gibt es die Realismusforderung; sie begleitet, im Grunde seit den realistischen Experimenten des Sturm und Drang, die Genese einer modernen Literatur, ist genuiner Bestandteil ihres reflexiven Diskurses: vom Realidealismus der Klassik und dem Poetischen Realismus über naturalistische und neusachliche Ansätze bis hin zum Neuen Realismus der Kölner Schule oder, zuletzt, zum Relevanten Realismus der Nuller Jahre.
In diese Traditionslinie gestellt, bekommt die Debatte nun eine symptomatische Dimension: Sie ist Ausdruck eines genuin modernen, weil grundlegend ungeklärten Verhältnisses der Literatur zu der sie umgebenden Realität. Als Reaktion auf dieses ungeklärte Verhältnis zur Realität kommen dabei im Grunde nur zwei poetologische Konzepte in Frage: Entweder man kappt dieses ungeklärte Verhältnis, wählt Wege wie den in die Phantastik oder den in die unbedingt Artifizialität der Literatur; oder aber man entscheidet sich dazu, sich – auf welche Weise auch immer – auf die Realität einzulassen. Mir scheint, Letzteres ist die epochale Signatur unserer gegenwärtigen Literatur. Dafür jedenfalls könnte die zurückliegende Debatte eins von nicht wenigen Symptomen sein: Dass sich die Literatur, um die es in der Debatte ging, derzeit in einem noch nicht näher bestimmten Zeitalter des Realismus befindet.
Das Problem realistischen SchreibensDas aber lenkt die Aufmerksamkeit auf den zweiten Aspekt der ›Realismusdebatte‹. Denn neben der reflexiven Realismusforderung gibt es ja, zum anderen, auch ein ganz konkretes ästhetisches Problem, eben das Problem realistischen Schreibens. Dabei geht es nicht darum, dass Literatur sich mit der Realität auseinandersetzen solle, sondern wie sie es tun könnte. Und hier wird die zurückliegende Debatte in meinen Augen besonders interessant, und zwar aus zwei Gründen: Der erste Grund ist der Realitätsbegriff, der in der Debatte von den meisten Beiträgern vertreten wurde. Es ist ein, ehrlich gesagt, ziemlich traditioneller, vor allem auch ein prädigitaler Realitätsbegriff, der in erster Linie die materiellen, realökonomischen und lebensweltlichen Zustände in den Blick nimmt. Dass sich ein wesentlicher Teil unseres sozialen Seins, unserer Kommunikation und unserer prekären Identitätskonstruktion mittlerweile in digitalen Räumen vollzieht, hat in der Debatte keine Rolle gespielt. Anders gesagt: die Debatte hat in dieser Hinsicht etwas Rückständiges; sie hätte so im Grunde auch in den 70er Jahren geführt werden können. Ein Realismus, der dem Sein in einer digitalisierten Gesellschaft angemessen sein könnte, wurde jedenfalls überhaupt nicht diskutiert.
Interessant ist die Frage nach dem ästhetischen Problem realistischen Schreibens aber auch noch aus einem anderen Grund, auch dieser hängt zumindest teilweise mit der Digitalisierung zusammen. Bemerkenswert an der Debatte ist nämlich, dass sie nahezu ausschließlich um das realistische Erzählen, ja sogar meist nur um einen zeitgemäßen realistischen Roman kreiste. Literatur ist aber so viel mehr als nur der Roman, auch wenn sich dieser zur Königsgattung, zum Fetisch des kapitalistischen Literaturbetriebs entwickelt hat.
Der überaus enge, allein den Roman fokussierende Literaturbegriff der Debatte hat dabei verhindert, dass auch solche literarischen Formen in den Blick geraten konnten, in denen aus meiner Sicht bereits seit einiger Zeit neue realistische Schreib- und Darstellungsweisen erprobt werden. Ich denke da etwa an das Theater beziehungsweise an die Performance-Künste. Bei uns in Göttingen zum Beispiel gibt es seit fünf Jahren das boat people projekt, eine von vielen postmigrantischen Theaterinitiativen in Deutschland, die sich an sehr interessanten Techniken eines performativen Realismus versuchen – auf der Grenze zwischen Dokumentarismus und Fiktion. Ich denke aber nicht nur an das Theater, sondern auch an all die Formen eines analytischen Schreibens, wie sie im Netz entstanden sind und weiterhin entstehen. Hier liegt gewiss nicht immer das vor, was man im engeren Sinne als ›schöne Literatur‹ bezeichnen würde. Aber mit einem solchen engen Literaturbegriff kommen wir heute auch nicht mehr weiter. Realistisch-analytische Schreibweisen mit ästhetischem Anspruch haben sich seit einiger Zeit schon andere Orte gesucht als den Roman; häufig entstehen sie als hybride Gebilde in den Grenzbereichen zwischen Literatur und Journalismus, ich verweise nur auf die Tradition des New Journalism, etwa einen Text wie »The Shipbreakers«, eine großartige literarische Reportagen von William Langewiesche, die mir gerade zufällig, im Netz, über den Weg ist.
Betrachtet man die zurückliegende Debatte also als ›Realismusdebatte‹, dann erweist sie sich als ebenso traditionsreich wie traditionell: Sie operiert mit einem prädigitalen Realismusbegriff und sie beruht auf einem engen, letztlich elitären Literaturbegriff. Wirklich gegenwärtig, wirklich auf der Höhe der Zeit war die Debatte irgendwie nicht.
In dieser Diagnose deutet sich bereits an, worin ich das Symptomatische der Debatte sehe. Man könnte sagen: Die Debatte ist ein Symptom dafür, dass jene Teile des deutsche Literaturbetriebs, die diese Debatte führten, bisher im Grunde nicht im 21. Jahrhundert angekommen sind. Konzeptionell und operativ verharren sie in einer Welt, die nicht wesentlich anders ist als vor, sagen wir, vierzig Jahren.
RestrelevanzDiese symptomatische Unzeitgemäßheit der Debatte lässt sich auch anhand eines anderen Zentralbegriffs beobachten: anhand des Relevanzbegriffs. Denn geführt wurde ja nicht nur eine ›Realismusdebatte‹, sondern – und teils in eins damit – eine ›Relevanzdebatte‹. Dabei ging es, auch das ist typisch für die Selbstreflexion der Literatur in der ausdifferenzierten Gesellschaft; dabei ging es nicht zuletzt um die Frage, welche Funktionen und Leistungen Literatur in unserer Zeit erbringen könnte. Erstaunlich war in diesem Zusammenhang nicht nur, was der Literatur alles aufgelastet wurde: Mitunter hatte man das Gefühl, Literatur müsse gewissermaßen als der letzte Hort des politisch-sozialen Widerstands fungieren. Erstaunlich ist auch, wie wenig darüber nachgedacht wurde, für wen, für welche sozialen Gruppen Literatur überhaupt noch so etwas wie Relevanz entfalten kann. Denn seien wir ehrlich: Die Zeiten, in denen der Literatur so etwas wie eine gesamtgesellschaftliche Relevanz zukam, sind vorbei, wenn es diese Zeiten denn je gegeben hat. Die hochdifferenzierte literarische Kommunikation erfolgt heute fast ausschließlich innerhalb von stilistisch und ideologisch weitgehend autonomen Milieus, ja sie erfolgt mitunter in sehr begrenzten sozialen Netzwerken, realen wie virtuellen. Entsprechend differenziert sind die Leistungen, die Literatur innerhalb dieser unterschiedlichen Milieus und Netzwerke erbringen kann; und entsprechend differenziert sind die Formen, die sie dafür ausbildet.
In der Debatte spielte diese soziale und mediale Differenzierung der Literatur jedoch keine Rolle. Der ›hochkulturelle‹ Literaturbetrieb, der dort diskutierte, war im Wesentlichen darum bemüht, den Eindruck zu erwecken, er vertrete das Ganze der gegenwärtigen Literatur. Auch diese Haltung ist letztlich symptomatisch: Weder die hochkulturelle Literatur noch der sie beobachtende Literaturjournalismus haben die soziale Ausdifferenzierung, die Ökonomisierung und die Marginalisierung ihres Gegenstands bisher wirklich verkraftet. Geschweige denn, dass diese Kränkungen in das eigene Selbstverständnis integriert wurden. Anders gesagt: Eine Debatte, die tatsächlich immer noch nach der gesamtgesellschaftlichen Relevanz von Literatur sucht, wird stets nur aus einer längst überholten Verteidigungshaltung heraus argumentieren können. Übersehen wird sie dabei dasjenige, was sich jenseits ihrer eigenen sozialen Blase an durchaus relevanter literarischer Produktion ereignet, vollzieht.
Man könnte es auch so formulieren: Als ›Relevanzdebatte‹ betrachtet ist die zurückliegende Auseinandersetzung ein Symptom für die uneingestandene Irrelevanz des hochkulturellen Literaturbetriebs. Sie war keine ›Relevanz-‹, sie war eigentlich eine ›Irrelevanzdebatte‹. Wirklich ernüchternd ist das sicher nur für jene, die noch voll in diesem Betrieb aufgehen oder aber unbedingt in ihn hineinwollen. Für alle anderen ist es selbstverständlich; und vielleicht ja auch: Anlass, über die zerstreuten, heterogenen, differenzierten Formen und Funktion der Literatur im 21. Jahrhundert nachzudenken.
Eine Bewegung?Das betrifft im Übrigen auch die Literaturwissenschaft, die ja mit dem hochkulturellen Literaturbetrieb aufs engste verbandelt ist. Auch sie muss sich fragen, ob es angesichts unserer soziomedialen Umwelt nicht einer erneuten Ausweitung des Literaturbegriffs bedarf; auch sie muss Techniken des Beobachtens entwickeln, die sich auf der Höhe der gegenwärtigen literarischen Kommunikation bewegen, sei diese realweltlich, sei sie virtuell. Denn auch hier wäre falscher Idealismus unangebracht: Wie der Literaturbetrieb insgesamt, so muss sich auch die Literaturwissenschaft ihrem eigenen Relevanzverlust stellen. Aber auch das sollte kein Grund zur Ernüchterung sein; auch das könnte als Chance verstanden werden, sich entschieden mit der eigenen Rolle als Gegenwartswissenschaft auseinanderzusetzen. (Denn dass wir eine ausgezeichnete historische Wissenschaft sind, wissen wir doch im Grunde.) –
Es ist einfach sehr viel in Bewegung derzeit; es könnte gut sein, wenn wir alle uns noch mehr darum bemühen, ebenfalls in Bewegung zu bleiben.
[…] Trilcke: Buh! Eine Bewegung. Zur Literaturdebatte. Eine mündliche Stellungnahme, 6.5.2014, URL: http://www.litlog.de/buh-eine-bewegung/ oder […]
[…] Ersterschienen auf Litlog, 6.5.2014 […]