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Göttinger Poetikdozentur
»Der Blick Gottes«

Wohl kaum ein deutscher Autor hat sich in den letzten Jahren in der deutschen Literatur so ausführlich mit dem (Roman-)Schreiben auseinandergesetzt wie Navid Kermani, Göttinger Poetik-Dozent 2011. Im Interview mit Litlog spricht er über Romanästhetik, politisches Engagement und den Tod.

Von Kevin Kempke

Die Ankündigung, dass Navid Kermani 2011 die traditionsreichen Göttinger Poetikvorlesungen halten würde, war keine große Überraschung, hat er als Frankfurter Poetik-Dozent 2010 doch schon einschlägige Erfahrungen vorzuweisen. Aber Kermani bietet sich auch auf besondere Weise an: Sein Formbewusstsein, das schon in seinen frühen Romanen und Erzählungen auffiel, hat in Kermanis kürzlich erschienenem Roman Dein Name eine neue Qualität erreicht. Der Roman enthält umfangreiche Reflexionen über die Bedingungen und Möglichkeiten des Schreibens und errichtet auf den Eckpfeilern Jean Paul und Hölderlin ein interessantes poetologisches Gebäude. Auffällig ist die große Ernsthaftigkeit, mit der sich Kermani ästhetischen Fragen nähert und die in deutlichem Kontrast zu der stilistischen und sprachlichen Beliebigkeit steht, die man der deutschen Gegenwartsliteratur schon mehr als einmal zum Vorwurf gemacht hat: Schreiben als »religiöses Unterfangen«.

Kevin Kempke: In Ihrem neuen Roman Dein Name setzen Sie sich ausführlich mit dem Romanschreiben auseinander, haben letztes Jahr in Frankfurt, dieses Jahr in Göttingen in der Poetikvorlesung über Romanästhetik gesprochen. Was macht einen Roman zum Roman?

Navid Kermani: Ein Roman versucht, mit literarischen Mitteln eine Totalität zu erfassen und eine kollektive Erfahrung einzufangen, die über die Lebenserfahrung des einzelnen Individuums hinausgeht. Wenn man die Tradition des Bildungsromans beiseite lässt, geht der Roman immer aufs Totale, will das große Welttheater. Nur ist dieser Anspruch von vornherein zum Scheitern verurteilt, da die menschliche Perspektive immer beschränkt bleibt. Das Totale erfasst nur der Blick Gottes. Es ist kein Zufall, dass die Geschichte des modernen Romans mit Don Quijote beginnt. Das Romanschreiben ist ein Kampf gegen Windmühlen.

K.K.: Und trotzdem nehmen Schriftsteller diesen Kampf immer wieder auf sich, Sie eingeschlossen. Welche Möglichkeiten hat denn ein Romanschreiber dieser Totalität nahezukommen?

N.K.: Das kann man nicht in allgemeine Regeln fassen, sondern nur an einzelnen Romanen aufzeigen. Der Roman ist ein offenes Gefäß. Sehr vieles ist erlaubt: Wenn ich z.B. einen Essay von 100 Seiten Länge einbauen will, tue ich es eben.

K.K.: Sie entwickeln ihre Poetik stark auf dem Fundament der Romanästhetik Jean Pauls. Was macht seine Romane so besonders?

N.K.: Er reizt die Freiheiten, die diese Form bietet, bis zum Äußersten aus. Seine Romane sind voller Abschweifungen, in die er alles aufnimmt, was in seiner Welt vor sich geht. Sein Prinzip ist es, die Handlung wie beim echten Erzählen ständig zu unterbrechen und auf die Einflüsse von außen zu reagieren: Jemand klopft, jemand geht vorbei, jemand stirbt – alles fließt in seinen Roman ein. Indem er nicht nur einen Strang verfolgt, sondern so vielgestaltig erzählt, fängt er seine Erfahrungen als Mensch in der Totale ein.

K.K.: Welche Rolle spielt die Einordnung in eine literarische Tradition für Sie?

N.K.: Jeder Autor beginnt da, wo andere aufgehört haben und setzt etwas fort, schließlich ist ja jeder allein schon durch Muster des Erzählens vorgeprägt. Die Frage ist, ob man sich dessen bewusst ist, oder nicht.

K.K.: Sehen Sie sich denn in der Nachfolge von bestimmten Autoren, Hölderlin und Jean Paul mal ausgenommen?

N.K.: Ich würde mir nicht anmaßen wollen, eine Nachfolge von Jean Paul oder Hölderlin anzutreten, das wäre vermessen. Meine größten Einflüsse kommen wohl aus der deutschsprachigen Tradition, nicht so sehr die Nachkriegsgeneration, sondern mehr die frühe Moderne, Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum 2. Weltkrieg. Das ist die Zeit, in der ich mich zuhause fühle.

K.K.: Die Mystik ist ein weiteres wichtiges Thema ihres Romans. Sie erklären beispielsweise Hölderlin zum Mystiker. Welche Bedeutung hat das Konzept der Mystik für Sie?

Poetik-Dozentur

Die Göttinger Poetikvorlesungen wurden von Heinz Ludwig Arnold begründet. Sie werden jährlich vom Literarischen Zentrum Göttingen und dem Seminar für Deutsche Philologie ausgerichtet und vom Georg-Holtzbrinck-Verlag gefördert. Zu den Poetikdozenten der vergangenen Jahre gehörten neben Navid Kermani Autoren wie Felicitas Hoppe, John von Düffel, Daniel Kehlmann, Peter Schneider, Eckhard Henscheid oder Feridun Zaimoglu.
 
 
N.K.: Mystik kann etwa bedeuten, in allem ein Zeichen zu sehen, ein Zeichen Gottes. Das ist nicht unbedingt pantheistisch gemeint, sondern in dem Sinne, dass nichts nur für sich selbst steht. Alles weist auf etwas hin. Auch der urliterarische Blick besteht darin, in allem das Zeichenhafte zu sehen. Zum anderen ist der mystische Vorgang ein Vorgang des Willensverlusts, hin zu einer Absichtslosigkeit, der Versenkung in das Objekt bis hin zum Ich-Verlust, der sich aber als Ich-Gewinn erweist – das empfinde ich als ein wichtiges Teilstück in der Arbeit des Schriftstellers. Der literarische Prozess ist insofern durchaus mit dem mystischen verwandt. Es ist wichtig, sich im Schreiben manchmal selbst zu verlieren und nur den Formgesetzen des Werks zu folgen. Man muss sich dem Stoff fügen. Aber wie gesagt, das ist nur einer von mehreren Aspekten und Phasen in der Arbeit.

K.K.: Ist denn die mystische Versenkung nur für den Autor oder auch für den Leser möglich?

N.K.: Für beide natürlich. Das ist eine Erfahrung, die man bei ganz alltäglichen Ereignissen wie dem Hören eines Musikstücks oder dem Lesen eines Gedichts haben kann. Es geht darum, sich selbst zu vergessen und gerade deshalb ganz bei sich zu sein. In der sexuellen Erfahrung beispielsweise wird der Ich-Verlust ja auch als Bereicherung erfahren. Ich habe in meinem Buch Gott ist schön die Ähnlichkeiten zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung theoretisch untersucht, aber eigentlich beschäftigt es mich in allen oder jedenfalls vielen meiner Bücher, ganz deutlich natürlich in dem Buch über Neil Young. Oft sind es ganz kleine Momente im Leben, die trotzdem etwas Transzendentes haben. Vielleicht ist das ein Abglanz, eine Spur oder auch nur ein Zeichen dessen, was auch die Propheten erlebt haben.

K.K.: In der Berichterstattung zu Ihrem Roman fällt auf, dass Sie aufgrund der starken Ähnlichkeiten, die der Erzähler zu Ihnen aufweist, oft mit dem Erzähler gleichgesetzt werden. Belastet Sie das?

N.K.: Damit musste ich bei diesem Roman rechnen, das war darauf angelegt. Wenn es literarisch notwendig ist, muss man diese Art von Verständnis, beziehungsweise aus meiner Perspektive ja Mißverständnis, eben in Kauf nehmen. Angenehm ist es mir aber nicht. Die Frage ist ja zum Zeitpunkt des Erscheinens für den einen oder anderen bedeutsam. Wenn es den Autor nicht mehr gibt, wird sie ganz egal.

K.K.: Sie verlassen die fiktionale Ebene des Textes und sprechen als »Ich«, wenn sie über reale Verstorbene sprechen, denen sie Nachrufe widmen: Warum dieser Perspektivenwechsel?

N.K.: Am Tod prallt alle Dichtung ab. Wir können damit umgehen, dass wir alle irgendwann sterben müssen; erst wenn uns der Tod konkret bedroht und in unmittelbare Nähe rückt, wird er schrecklich. Man kann die Verstorbenen nur ehren, wenn man sie benennt und ihnen ein Gesicht gibt.

K.K.: Ist das Schreiben denn für Sie auch ein Versuch, Unsterblichkeit im Kunstwerk zu erreichen?

N.K.: Einen solchen narzisstischen Antrieb ganz zu verkennen, wäre sicher falsch. Für Künstler war es schon immer ein wichtiger Antrieb, etwas zu schaffen, was sie überdauert. Insofern ist das Schreiben ein Aufbegehren gegen die Vergänglichkeit, mit aller Vorsicht formuliert. Wenn man Literatur als Flaschenpost begreift, man den Adressaten also nicht kennt, gibt einem das auch eine gewisse Gelassenheit im Hinblick auf die unmittelbaren Reaktionen, auch wenn das vielleicht eitel klingen mag.

K.K.: Sie treten auch immer wieder als politischer Autor hervor und haben kürzlich sogar den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken verliehen bekommen. Welches Selbstverständnis prägt Sie in Ihren politischen Schriften?

N.K.: Als Literat sehe ich meine Aufgabe darin, die Wirklichkeit so komplex und widersprüchlich abzubilden, wie sie nun einmal ist. Wir erfahren die Welt ja nicht als etwas Klares und Lineares. Aufs Politische übertragen heißt das, keine einfachen Lösungen zu bieten, sondern vielleicht auch darauf zu beharren, dass es mitunter gar keine Lösung gibt. Ich hoffe, dass man meine Reportagen nicht einfach nur abnickt, sondern dass man nachher möglicherweise mehr Fragen hat als zuvor. Das sehe ich als das eigentlich politische Moment meiner Arbeit. Die Chancen, die sich mir dadurch bieten, beispielsweise öffentliche Reden halten zu dürfen oder auf Diskussionen eingeladen zu werden, sehe ich demgegenüber als zweitrangig an, auch wenn ich natürlich versuche, diese Chancen positiv zu nutzen. Im übrigen denke ich nicht, dass man zu allem eine Meinung haben sollte. Es gibt Perioden, wo ich mich mit bestimmten Dingen mehr beschäftige und mich dann auch in Debatten engagiere, aber manche Sachen beobachte ich auch einfach nur von außen.

K.K.: Beteiligt haben Sie sich beispielsweise an der Integrationsdebatte. Sie versuchen, ein differenziertes Islambild zu vertreten, haben dabei aber oftmals gegen irrationale Widerstände zu kämpfen – eine Rolle, die Sie im Roman sehr kritisch reflektieren. Wie sehen Sie den Stand der Debatte post-Sarrazin?

N.K.: Sarrazin hat sehr stark enttabuisierend gewirkt. In der Folge traute man sich Sachen zu sagen, die schon lange in der Luft lagen, aber nicht so frei artikuliert wurden. Mittlerweile hat sich diese Stimmung aber wieder gelegt und auch eine Gegenbewegung ausgelöst, die jetzt ebenfalls vehementer auftritt. Ich bin geneigt, die ganze Debatte als Geburtswehen zu sehen, hervorgerufen durch die massiven demographischen Entwicklungen. Der Mechanismus solcher Verteilungskämpfe ist dabei immer der Gleiche: Man versucht, die eigene Aggressivität zu verschleiern, indem man scheinbar rational zu erklären versucht, warum die Gegenseite gefährlich ist. Jeglicher Angriffskrieg deklariert sich als Verteidigungskrieg, das gilt für den Fremdenhass genauso.

K.K.: Haben Sie selbst viele solcher Aggressionen erlebt?

N.K.: Kaum, weil ich auch nicht in einem sozial benachteiligten Milieu aufgewachsen bin. Wenn ich die wenigen ausländerfeindlichen Situationen, die es natürlich auch gab, jetzt isolieren würde, entstünde der Eindruck, dass Deutschland ein schrecklich ausländerfeindliches Land sei, aber das entspräche überhaupt nicht der Gesamtheit meiner Erfahrungen. Im Vergleich zu anderen Ländern finde ich, dass die Toleranz gerade in Deutschland verhältnismäßig gut ausgeprägt ist inzwischen.

K.K.: Kommen wir zum Ende noch einmal auf die Poetikvorlesung zu sprechen: Was kann das Publikum eigentlich mit einer Poetik anfangen? Wozu Poetik und wozu Poetikvorlesung?

N.K.: Poetik bedeutet für mich, über Literatur nachzudenken und zwar nicht im biographischen Sinne, sondern ganz handwerklich: Wie ist das gemacht? Man bekommt einen Einblick in die Schreibwerkstatt eines Autors. Ich finde das sehr interessant, bin aber auch erstaunt, dass dieses Thema so eine Resonanz findet. Bei der Poetikvorlesung in Frankfurt sind es fast immer um die 500 Hörer, die kommen, jedes Semester fünf Wochen lang. Das widerspricht allen Vorurteilen.

K.K.: Schließen möchte ich mit der obligatorischen Frage nach dem nächsten Projekt, die sich nach einer so umfänglichen Selbstreflexion aber natürlich auch in besonderem Maße stellt. Also: Was kommt als Nächstes?

N.K.: Es werden jetzt erstmal zwei Bücher rauskommen, die quasi noch Zugaben zu Dein Name sind. Zum einen wird nächsten Herbst die Frankfurter Poetikvorlesung, die eine abgeschlossene Beschäftigung mit Hölderlin und Jean Paul darstellt, erscheinen, zum anderen wird es 2013 einen Band mit Reportagen geben, für den ich in nächster Zeit noch einige Reisen unternehmen werde. Was danach kommt, weiß ich noch nicht.

K.K.: Herr Kermani, vielen Dank für dieses Gespräch.



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 Veröffentlicht am 2. Januar 2012
 Foto von Benjamin Richter.
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