Der ungarische Schriftsteller Péter Nádas und der schwedische Journalist Richard Swartz trafen sich am 23.6.2011 in der Paulinerkirche in Göttingen und setzten ihre Zwiesprache (erschienen bei rororo) aus dem Jahr 1989 fort. Die Unterschiede zwischen Ost und West sind – damals wie heute – die Themen, die sie miteinander auf eine Art besprechen, die persönlicher kaum sein kann.
Von Till Deininger
Damals war es sicherlich die Aktualität der zeitgeschichtlichen Ereignisse, die dem Buch immense Aufmerksamkeit bescherte – heute bezieht die Unterhaltung ihre Spannung aus der Frage, was sich seitdem geändert hat. Welche Auswirkungen hat das Wegbrechen der Grenze zwischen Ost- und Westeuropa auf die Menschen? Eine Standortbestimmung, die durch ihre intime Atmosphäre lebt, die dem Belauschen einer Unterhaltung alter Freunde innewohnt.
Das menschliche DesinteresseEin erstes ernüchterndes Fazit trifft Richard Swartz schon früh: Der Westen wollte nichts wissen und will es auch noch immer nicht. Das Verschwinden der Grenze ist zwar ein Beleg für Freiheit, was für ihn eine Verneinung von Grenzen ist. Aber dennoch gibt es viele Phänomene, Traditionen und Sitten, die die Zweiteilung aufrecht erhalten. Wie es sich für ein gutes Gespräch unter Freunden gehört, greift Péter Nádas an dieser Stelle ein und schafft ein Gegengewicht: Das Desinteresse ist da, ja, da stimme er ihm zu, aber es ist nur menschlich. Unterschiedliche Ziele – es interessiert nur das, was man erlangen will – sieht er als den Grund dafür. Das wirtschaftliche und strukturelle Niveau bestimmt das Desinteresse des westlichen Europas. Der Westen ist reicher und hat mehr Struktur und von Reichen und Neureichen kann man kein Interesse für die Armen verlangen. Immerhin sind 20 Jahre seit dem Verschwinden des real existierenden Sozialismus nicht viel und für ein richtiges Zusammenwachsen bräuchte es weitere 100 Friedensjahre, um die historisch gefestigten Muster zu ändern.
Hier ist es nun Swartz, der sich wieder ins Spiel bringt, aber nicht um Nádas zu widersprechen, sondern vielmehr um dessen Gedanken weiter auszuführen. Die sind ihm durchaus bekannt aus vielen Gesprächen, die sie innerhalb der letzten 20 Jahre geführt haben müssen. Swartz spinnt den Gedanken Nádas´ fort und gelangt über die historische Entwicklung kurz umrissener 300 Jahre zu dem wieder aufflammenden Nationalismus in Ungarn. Die Unzufriedenheit über die aktuelle Situation, verleitet seiner Meinung nach eher zu einem Fundamentalismus, der jedoch die Einsicht darüber versperrt, dass das eigene Land vielleicht keine so große Rolle gespielt hat in der historischen Entstehung Europas.
Und plötzlich kratzt das Gespräch die Vorkommnisse der Gegenwart Ungarns – aber leider nur für einen kurzen Moment. Es ist an dieser Stelle hinzuzufügen, was man im Gespräch der beiden gut an der Tonlage und der Bedachtheit ihrer Wortwahl merkt: sie denken im ganz großen Rahmen – jedoch ohne sich auf Allgemeinplätzen wieder zu finden, auch dank des stets gegenüber sitzenden Korrektivs. Der historischen Übersicht gilt die Aufmerksamkeit der beiden – die Gegenwart blitzt nur an einigen wenigen Stellen auf.
Gestern waren wir noch jungSo wandern die beiden durch die gemeinsam erlebte Vergangenheit. Dabei suchen und finden sie verbindende Anhaltspunkte, die sie immer wieder gegenseitig kommentieren – nicht selten mit einem verschmitzten Lächeln, um die Gunst der Zuhörer buhlend.
Das Fazit der Moderatorin am Ende des Abends sei an dieser Stelle vorweg genommen: Wie damals, 1989, müsste man der Unterhaltung vier Tage einräumen, um das ganze Ausmaß der Erfahrungen und Vorstellungen zumindest umreißen zu können – ein Vergleich von damals und heute würde wahrscheinlich weitere vier Tage in Anspruch nehmen. Natürlich ist dies in knapp zwei Stunden nicht zu leisten gewesen.
Und dennoch vermitteln beide ein sehr lebendiges Bild der unmittelbaren europäischen Geschichte. In diesem Sinne war es sicherlich ein voller Erfolg für die Organisatoren des Abends, denn neben dem Literarischen Zentrum Göttingen war es auch der Masterstudiengang Euroculture, der hier geladen hatte und der den Großteil des Publikums gleich selber stellte. Sie seien die jungen Protagonisten des noch jungen Projekts Europa, das noch viel Zeit brauche – doch Zeit vergeht schnell. »Gestern waren wir noch jung«, so Swartz.
Der Marlboromann in StockholmImmer wieder sprießen die Anekdoten aus der Jugendzeit hervor, die die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Freiheit und Fremdheit verdeutlichen und die ihnen auch – oder erst recht – heute die Augen öffnen für die Unterschiede in der Wahrnehmung der »Ost- und Westmenschen«. Zum Beispiel, dass Medien verzerrte Bilder von der Welt vermitteln. Den Umgang mit Werbung muss der »Ostmensch«, in diesem Falle Péter Nádas, erst erlernen. So verkomplizieren die Medien zusätzlich das kaum mögliche, ganzheitliche Verstehen einer anderen Kultur. Mit Nachdruck erzählt er davon, wie er, aufgewachsen ohne Reklame, die Werbung des Westens als wahr ansah und klar war, dass in Stockholm der Marlboromann durch die Straßen reitet – es stand doch überall.
Eine Frage aus dem Publikum richtet den Blick gegen Ende der Veranstaltung erneut auf die Gegenwart: Was man machen könne gegen politische Entwicklungen wie sie in Ungarn unter Regierungschef Victor Orbán zu erkennen sind oder auch in Italien unter Silvio Berlusconi. Es ist erneut die Übersicht der beiden geladenen Gäste und der große Rahmen, in dem sie denken, den sie auch hier heranziehen. So stellen sie weder Orbán noch Berlusconi als Sonderfälle dieser Länder dar. Vielmehr verweist Nádas auf allgemeine historische Tendenzen, die immer in parallel auftretenden Phänomenen zu Tage treten – wie beispielsweise auch die Proteste von 1968. Auf die konkrete Frage zurückkommend muss man, so Nádas, neben Orbán und Berlusconi auch Putin und Sarkozy nennen, um das gesamteuropäische Phänomen zu verstehen – allesamt ähnliche Charaktere. Allesamt kleine Diktatoren.
So wird an dieser Stelle, wie an vielen anderen Punkten zuvor an diesem Abend, erneut klar, dass der historische Überblick und die damit verbundenen Kenntnisse über Europa extrem wichtig sind für das Verständnis des gegenwärtigen Europas. Dieses Verständnis war es, das Nádas und Swartz an diesem Abend mit sehr persönlicher Note und dadurch umso beeindruckender präsentieren konnten.