In Das Göttin-Gen – Eine Stadt heilt sich selbst wird alles zusammengeworfen und dann mit dreifacher Geschwindigkeit gespielt. Über die Zulässigkeit von freien Assoziationen, stereotypen Frauenbildern und vereinfachender Provokation als sinnstiftende Theaterelemente berichten Laura-Solmaz Litschel und Lee Hielscher in einer Nachschau zum Stück.
Von Laura-Solmaz Litschel und Lee Hielscher
Der Abend beginnt mit Verwirrung. Die Regisseure begrüßen das Publikum um Punkt 19:77 Uhr auf dem Mescalero- Platz. Doch dann sind wir plötzlich in Stammheim und kurze Zeit später wieder in Göttingen. Schließlich befinden wir uns in einem Gericht und 12 von uns werden zu Geschworenen – alles innerhalb von fünf Minuten – und alles vor dem eigentlichen Beginn. Verwirrung, welche die folgenden 77 Minuten des Stücks Das Göttin-Gen – Eine Stadt heilt sich selbst anhalten wird. Laut dem Regisseur ist das Ensemble hier angetreten, um mit dem Stück Wunden aufzureißen. Tatsächlich wirft die Koproduktion des Jungen Theaters, bodytalk und dem Analogtheater viele Fragen über das Junge Theater an sich auf. Unbeabsichtigt.
Mescalero …was war das noch gleich? Heute ist fast vergessen, dass Ende der 70er Jahre die ganze bundesrepublikanische Öffentlichkeit den Kopf über den Brief eines selbsternannten Mescalero-Stadtindianers schüttelte. Der Göttinger Verfasser hatte »klammheimliche Freude« über die Erschießung von Bundesanwalt Buback zugeben müssen, jedoch auch kritische Fragen zur Militanz im politischen Kampf aufgeworfen. Vielen Zeitungen der Zeit war aber allein das Bekunden von Freude über Bubacks Tod Grund zur Empörung, während die Göttinger AStA-Zeitung dagegen eine Grundsatzdebatte über die Freiheit des Wortes lostrat. Eine vergessene Geschichte? In einer Stadt, die selbst an den Sommerurlaub eines drittklassigen Physikers mit einer Gedenktafel am Haus erinnern würde? Das Göttin-Gen tritt dagegen an und gibt dem ganzen Geschehen ein Denkmal: Der Wochenmarkt heißt ab diesem Moment Mescalero- Platz. Ganz selbstverständlich. Doch das heißt auch, dass das Junge Theater jetzt Stammheim ist.
Heilung durch LichttherapieDas Stück nimmt das Publikum direkt in das surreale Setting auf. Nachdem die anfangs im Foyer ausgewählten Geschworenen durch das Theater/Stammheim geführt wurden, nehmen alle Platz und sind Teil einer Therapiestunde auf der Bühne. Am Rand der Szenerie sitzt eine Altpunkerin und singt The Doors- Songs vor sich hin, während sich eine halbnackte Frau im rosa Spitzenhöschen auf der Bühne räkelt. Auf ihrem Kopf trägt sie einen Haarreifen mit rosa Minimausohren. Sie schreit, stöhnt und fällt zuckend zu Boden. Kurz darauf kommt ein Mann im Anzug. Die Frau springt ihn an und umklammert ihn stöhnend. Abgeklärt erläutert er den Zuschauer_innen, die Frau leide an einer besonders seltenen Krankheit: »Unkontrollierte Orgasmen«. Was wie eine abgedroschene Männerfantasie klingt, ist das Grundmotiv des Stückes. Nacheinander werden die fünf Darstellerinnen zunächst versuchen, eine Lichttherapie zu starten, dann halten sie Monologe über ihre Rolle, später über sich selbst und letztlich nehmen sie in einem wilden Schreitanz die ganze Bühne ein. Viel wird hier mit dem Körper gearbeitet; die Gäste von bodytalk und Analogtheater bescheren dem JT eine ordentliche Portion Performance, ohne dass sie das Publikum allerdings dabei mitnehmen.
Dabei geht es eigentlich um die Stadt Göttingen, um die Stadtgeschichte und die Geschichten ihrer Bewohner_innen. Gleichzeitig aber auch um einen Heilungsprozess. Und irgendwie geht es auch immer um den Mescalero und den großen Skandal. In der nächsten Minute wird Lichtenberg erwähnt, der eine nicht näher definierte Randgestalt bleibt – so wie er auch jetzt noch auf dem Marktplatz steht. Sehr oft geht es um Licht in diesem Stück. Und manchmal geht es auch um Toni. Wer das ist? So ein Typ aus Göttingen – ist aber auch egal.
Szenenwechsel. Brüste zeigen, Publikum anschreien und wieder von vorn. Das Stück ist ein Trip, als Zuschauer_in ist es unmöglich zu folgen. Darum scheint es der Regie und Dramaturgie aber auch nicht zu gehen. Tatsächlich, so wird nach kurzer Zeit klar, hat sich die Theatergruppe nicht mit der Stadtgeschichte auseinander gesetzt. Es werden zwar verschiedene Aspekte zitiert, thematisiert wird aber nichts. Diese »Vielfalt« ist, was den Spannungsbogen ersetzen soll. Doch inhaltlich kommt damit nichts rüber, weder wird der Erzählstrang des Mescalero aufgegriffen, noch die Frage, wie und wovon uns die Stadt heilt, und dass es laut Programmheft auch um fünf Universitätsmamsellen gehen soll, wäre ohne eben dieses Programmheft wohl niemanden aufgefallen.
So schleicht sich schon nach den ersten Minuten leichte Müdigkeit ein. Relativ schnell ist klar, dass es nicht zu wirklichen Kontroversen kommen wird, weil Inhalte fehlen. Dass es eigentlich um den Buback- Mord und den Mescalero- Brief gehen soll, tritt in den Hintergrund. Dabei wäre dieser doch gerade ein inszenierbares Thema gewesen.
Ist Weiblichkeit revolutionär?Fragt das Stück hingegen und lässt die Darstellerinnen als Antwort auf der Bühne einen »Fotzenkreis« bilden. Die animalisierte Darstellung der Schauspielerinnen scheint ein Faible des männlichen Produktionsteams hinter Das Göttin-Gen zu sein. Auch die Darstellung der halbnackten, sexsüchtigen Frau erinnert an die Hysterisierung des weiblichen Körpers wie sie schon Simone de Beauvoir Mitte des letzten Jahrhunderts kritisierte. Die anderen Darstellerinnen weinen oder verhalten sich in dem Stück wiederholt irrational. Frauenfiguren gestaltet von Männern, authentifiziert von Schauspielerinnen. Denn im Verlauf des Stücks heißen die Charaktere irgendwann genauso wie die Schauspielerinnen. Die Regie gesteht ihnen aber kaum starke Momente zu: Es wird sich sogar kurz auf Ulrike Meinhof bezogen, die ebenfalls während ihres »Die Zelle fährt«- Monologs in Tränen ausbricht. So fällt jede Szene auf stereotype Frauenrollen zurück.
Wer ein Stück feministischer Geschichte auf der Bühne aufgreifen will, sollte sich mit der Geschichte der Frauenbewegung und ihren aktuellen Kämpfen auskennen: Germanys Next Topmodel in einem Atemzug mit Pussy Riot zu nennen ist in diesem Kontext mehr als nur ‘vereinfachend’.
Während am Anfang noch das Gefühl vorherrscht, hier wäre eine interessante Arbeit geliefert worden, muss man mit der Zeit feststellen, dass wieder nur Inszenierungsgewohnheiten zu sehen sind. Es muss laut sein, der nackte, weibliche Körper muss zu sehen sein und es muss schnell sein. Theater als Reizüberflutung, um wenigstens noch mit dem Fernseher mitzuhalten. Keine weiteren Themen, außer sich selbst zu produzieren: Am Ende konzentrieren sich die einzelnen Anspielungen auf den Theaterbetrieb zu einem Monolog über das schwere Dasein von Ensemblemitgliedern und der künstlerischer Leitung des JT. Was hat das nun mit der Freude über Bubacks Tod zu tun? Oder mit Dorothea von Schlözer? Im Göttin-Gen wird einfach alles zusammengeworfen und dann mit dreifacher Geschwindigkeit gespielt, damit nicht auffällt, dass es kaum inhaltliche Konsistenz gibt. Eine Idee, Widerstand zu leisten? Die bleibt aus.