Die Novelle Katz und Maus des kürzlich verstorbenen Günter Grass wird im Jungen Theater in der Bühnenfassung gespielt. Neben einer eindrücklichen Mahlke-Impression durch Linda Elsner beweisen die Schauspieler ihr Talent im Sporteln. Katharina Lukoschek kommentiert.
Von Katharina Lukoschek
Wer kennt es nicht, das novellistische Intermezzo zwischen der Blechtrommel und den Hundejahren, das, wenn nicht ganze Schüler-, so doch Studentengenerationen in interpretatorische Delirien versetzt und die eine oder andere Seminarnote entscheidend beeinflusst hat? Mal abgesehen vom Krebsgang, der in den meisten Oberstufen kanonisiert ist, gibt es kaum einen anderen Text, der so schmerzhaft wie präzise des Deutschen Bürde nachzeichnet, wie es das kleine Büchlein Katz und Maus des verstorbenen Nobelpreisträgers tut. Darin befindet sich von der Coming of Age-Geschichte über die Spannung zwischen Konformismus und Nonkonformismus in der Nazizeit, die stereotypen Kompositionsmerkmale der Novelle oder die besonders in Deutschland willkommene Form der Erinnerungsprosa bis hin zur sperrigen Stilistik alles, was das germanistische Herz begehrt und lehrt. Der Plot ist daher sicher kaum der Rede wert und primär geht es Grass auch gar nicht so sehr um einen entsprechenden Handlungsbogen als um die Wirkung pointierter Ereignisse: So wie die Geschichte mit Pilenz‘ schamhafter Erinnerung einsetzt, wie er seinem Mitschüler Mahlke eine Katze an dessen ausgesprochen großen Adamsapfel hält, um der Katze eine Maus vorzugaukeln, so wird Mahlke mit diesem Ereignis vom unsportlichen Außenseiter zum Spitzenschwimmer und zum Objekt der Begierde im Freundeskreis. Seine eingangs belächelte Marienverehrung, die obsessive Züge trägt, wird mit der Zeit genauso zur Gewohnheit wie sein Adamsapfel oder seine Tauchgänge vom Wrack eines polnischen Minensuchbootes, zu dem Mahlke, Pilenz, Hotten Sonntag, Tulla Pokriefke und andere Mitschüler regelmäßig hinausschwimmen.
Doch stets behält Mahlkes Verhalten, seine Art, seine Statur etwas Hölzernes, ja Komödiantisches. Der Schraubenzieher, den er um den Hals trägt, um seinen Adamsapfel zu verdecken, oder seine militärische Präzision in den von Tulla angeführten Onanieparaden, helfen alles nichts: Mahlke bleibt irgendwie anders. Nachdem er auch noch das Ritterkreuz eines ehemaligen Schülers stiehlt, der direkt von der Front berichtend einen Vortrag in der Aula der Schule hält, ist der merkwürdige Jugendliche endgültig stigmatisiert. Der Diebstahl fliegt auf und Mahlke verschwindet. Erst als er Urlaub von der Front bekommt und nach Hause fährt, stellt sich heraus, dass er sich nach dem Verweis von der Schule aufgrund des Diebstahls freiwillig zum Wehrdienst gemeldet hat. Der diesmal ehrlicherweise mit einem Ritterkreuz dekorierte Mahlke hofft auf seine Rehabilitierung: Eine Tapferkeit an der Front hat ihm die Medaille eingebracht und warum nicht vor der ganzen Schule davon erzählen, so wie der Schüler damals, dem er das Ritterkreuz gestohlen hat? Doch es kommt natürlich anders, Mahlke haftet noch immer der Makel an, er kann davon nicht freigesprochen werden. Letzten Endes gelangt er mit der Hilfe seines Freundes und Erzählers der Geschichte Pilenz zum Minensuchboot und taucht ein letztes Mal, um nicht wieder aufzutauchen.
Abseits der DichotomienPilenz, mit dessen Erzählgestus der feuilletonistische Kenner spätestens 2006 beim Erscheinen des Skandalons Beim Häuten der Zwiebel ein Wiedersehen feierte, wirkt in Grass‘ Text, nicht zuletzt aufgrund seiner Schuld(gefühle), als sei er verantwortlich für Mahlke. Er, der sich lebendigst an seine Zahnschmerzen erinnert, die seinen Kopf zermahlen wie ein schlechtes Gewissen, hat Probleme sich zu erinnern, wer es denn eigentlich war, der Mahlke die Katze an die Gurgel setzte: »jedenfalls sprang sie Mahlke an die Gurgel; oder einer von uns griff die Katze und setzte sie Mahlke an den Hals; oder ich, mit wie ohne Zahnscherz, packte die Katze, zeigte ihr Mahlkes Maus.« Die Schuld treibt den Erzähler an, ganz wie den alten Grass, der sich an die Zeit als 17-jähriger Flakhelfer erinnert und der »nun schreiben muss«, doch die Erinnerung »liebt das Versteckspiel der Kinder«, so Grass in der Zwiebel, »sie verkriecht sich (…). Sie widerspricht dem Gedächtnis.« Der aufmerksame und viel weniger der effektheischende Leser von vor beinahe zehn Jahren, der nur auf die Waffen-SS-Geschichte gewartet hat, erkennt, dass es so einfach nicht ist mit dem Gut und Böse, der Wahrheit und der Lüge, der Opposition und den Opportunisten. Was man im Lebensroman des Kämpfers Grass als schonungslose Abrechnung mit sich selbst und dem fiesen Pedanten, der Liebesbriefe verbessert (übrigens viel schlimmer als sein Waffen-SS-Geständnis), als fließende Grenzen erkennt, die Dichotomien und ach so einfache Dualismen auflösen, hatte der Autor bereits 1961 angelegt. Das Deutungsmodell aus Schwarz und Weiß, aus Katz und Maus, das gerade Pilenz immer wieder verdeutlicht, entlarvt Grass im ironischen Unterton seiner Novelle als Nazi-Illusion, als eine Ideologie, die gerade der Nationalsozialismus predigte. Dualismen wie diese jedoch werden durch den als unzuverlässig markierten Erzähler Pilenz relativiert, sie brechen im Spiegel mittlerer und wiederum gebrochener Charaktere und bilden Prismen mit allen möglichen Facetten, die die Unterscheidung von Schuld und Unschuld unmöglich machen.
Schweres Gerät und turnendes TheaterMit genau dieser Markierung setzt das Schauspiel Katz und Maus im Jungen Theater ein, eine Bühnenbearbeitung von Mario Portmann. Der erinnernde Pilenz (Jan Reinartz) gibt zu, dass es doch er selbst war, der Mahlke die Katze an den Hals setzte, und die Arbeit an der Rekonstruktion dessen, was damals noch so geschah und welche Rolle der erinnerte Pilenz (ebenfalls Jan Reinartz) dabei spielte, beginnt. Die Besetzung im Theater ist begrenzt, man beschränkt sich darauf, den Schauspielern mehrere Rollen zuzuweisen, doch dies ist, im Gegensatz zu manch experimenteller Sperrdramaturgie, nicht weiter störend. Während Peter Christoph Scholz sowohl Hotten Sonntag verkörpert als auch kurzzeitig Mahlkes Mutter oder den ehemaligen Nazi-Musterschüler, spielt Karsten Zinser Hochwürden Gusewitz, Winter oder Mahlkes Tante. Die Mitschüler und der junge Pilenz werden ebenfalls von Scholz und Zinser gegeben, Eva Schröer verkörpert am prominentesten Tulla und Linda Elsner bleibt ausschließlich der Hauptrolle als Mahlke verhaftet. Bebrillt und mit makellosem Mittelscheitel gibt Elsner einen pubertierenden Jungen ab, der beeindruckend deutlich an Lars Brandt in Hansjürgen Pohlands Verfilmung von 1966 erinnert.
Das Bühnenbild besteht aus einem Sprungkasten, zwei Sportbänken, Matte und Sprungbrett sowie einem herabhängenden Fenster mit Buntgläsern. Spartanisch, genauso wie der Sport, der in der Schule getrieben wird, genauso wie die Ausstattung des Minensuchbootes, genauso wie das ganze Leben in der Zeit der Kriegssparsamkeit. Noch während Reinartz räsoniert und Pilenz‘ Vergangenheit heraufbeschwört, werkeln Scholz, Zinser und Schröer im Hintergrund an Kasten und Bänken und basteln daraus ein angedeutetes Wrack, zu dem sogleich geschwommen werden soll. Wie für Kinder, die Pirat spielen, wird auf einmal die Phantasie
Die Langsamkeit, das Sepiabild einer Pubertätserinnerung wird beschleunigt durch die flinken Bewegungen der Schauspieler und die rasanten Sportübungen, die die Bühne erfüllen, die aber nicht hätten sein müssen. Dabei drängt sich früher oder später der Eindruck auf, körperliche Ertüchtigung sei sozusagen leitmotivisch gelesen worden bei der Bearbeitung zum Bühnenstück, obwohl es in der Novelle nicht unbedingt darum geht. Die Schauspieler tragen meist Sportkleidung, das Sportgerät dominiert das Bild, die Schauspieler turnen fast unentwegt. Mitunter ergeben sich kleine Schocker postmoderner Qualität, z.B. der Masturbationssprint dreier Schüler auf dem Boot, der nicht etwa angedeutet, sondern durch das Malträtieren umgehängter Dildos ausgekostet wird. Die Komik solcher Szenen, die in einem so existenziellen Stück wie Katz und Maus gut tut, und die außerdem beim Rollenwechsel männlicher Schauspieler zu schrulligen Tanten besonders zu Tage tritt, nimmt sich hierbei keineswegs aufgesetzt aus.
ZeitsprüngeHingegen wirkt der eigentlich brillant gespielte Mahlke nicht genug genutzt in seinem Potenzial sowohl als Bühnen- als auch als Romanfigur. Als Außenseiter für seine Mitschüler bleibt er auch Außenseiter für das Publikum, da die Stärke, über die die Figur im Inneren verfügt, nie angedeutet wird. Mahlke bleibt der schwache und verhärmte Junge, doch der Diebstahl, der in Grass‘ Vorlage eine Relativierung von dualistischen Schwarz-Weiß-Malereien kennzeichnet, wird im Jungen Theater nicht deutlich. Prismatische Facetten ergeben sich durch die vielen, oft auch stimmungsreichen Rollen und Bilderwechsel, doch die Zuordnung von Pilenz‘ Schuld und Mahlkes Unschuldigkeit bleiben leider zu deutlich bestehen.
In einer zweiten »Hälfte« (denn eine Pause ist nicht vorgesehen) beruhigt sich der Tumult und Reinartz und Elsner dominieren zusehends die Bühne. Mahlke, der Heimkehrer, steckt in viel zu großen Wehrmachtsklamotten und heischt deutlich um die Anerkennung durch seine Mitschüler und durch Pilenz. Als es ihm nicht gelingt, als Vortragender in die Schule zurückzukehren, und als er schließlich seinen Urlaub überschreitet, kündigt sich das Unumstößliche an: Mahlke wird desertieren. Es ist bemerkenswerterweise Jan Reinartz als erinnernder Pilenz, der Mahlke zum Schiff hinausfährt, um ihn dort zu verstecken. Die Synthese aus erinnernder und erinnerter Figur, die Mahlke verabschiedet, überrascht und doch ist sie eine versöhnliche Geste gegenüber vormals begangenen Sünden, etwa die Sache mit der Katze oder dass Pilenz Mahlke nicht bei sich zu Hause verstecken will – eine Geste, die Grass selbst zu Lebzeiten nicht gelungen ist. Insofern schafft es die Inszenierung im Jungen Theater doch über klare Dichotomien hinaus: Indem Vergangenheit und Gegenwart durch eine Zeitenmetalepse miteinander verschmolzen werden, entsteht ein Konflikt zwischen dem, was sich tatsächlich zugetragen hat, und dem, was der erinnernde Pilenz manipulieren will. Es ist nicht mehr klar, wen welche Schuld zu welchem Zeitpunkt trifft und so entsteht das der Novelle angemessene prismatische Bild aus ironischen Nuancen.