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Lautstark gegen die Welt

Das Deutsche Theater Göttingen zeigt mit seiner Inszenierung von Die Blechtrommel, wie aktuell Günter Grass‘ Mammutwerk heute noch ist. Dabei lässt sich das Team um Regisseur Theo Fransz so einiges einfallen, um dem Blech zu neuem Glanz zu verhelfen.

Von Anika Tasche

»Wie sollte ich da nur anfangen?«, diese Frage stellt sich Benjamin Kempf als Oskar Matzerath gleich zu Beginn der Inszenierung von Die Blechtrommel am Deutschen Theater Göttingen. Letztlich entschließt er sich dazu, weit vor seiner Zeit zu beginnen, mit der Zeugung seiner Mutter Agnes. Was folgt, ist die Lebensgeschichte von Oskar Matzerath, der schon kurz nach Erblicken der Welt den Drang verspürt, wieder in den Mutterleib zurückzukehren. »Nur die in Aussicht gestellte Blechtrommel«, die ihm seine Mutter zum dritten Geburtstag beim jüdischen Spielzeughändler Sigismund Markus kauft, hält ihn am Leben und gibt ihm schließlich – einzig ergänzt durch seine Fähigkeit, Glas zu zersingen – das Mittel, seinen Unmut Luft zu machen. Dennoch entscheidet er sich im Alter von drei Jahren dazu, nicht mehr zu wachsen und bleibt diesem Vorhaben bis kurz vor Ende der Inszenierung (seinem 21. Lebensjahr) treu. Gewappnet mit seiner Blechtrommel und seiner Stimme durchlebt Oskar den Aufstieg der Nazis, den flächendeckenden Antisemitismus und die weitgehende Militarisierung der Gesellschaft. Doch auch von seinem ersten Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht und von dem Tod seiner Eltern berichtet er ausgiebig.
Sein ganzer Widerwille gegen die (politischen) Entwicklungen wird spätestens dann ersichtlich, wenn Benjamin Kempf auf der Bühne steht und lautstark sein Blech bearbeitet, während er die Geschehnisse in seinem Umfeld herausbrüllt:

Es war einmal ein Musiker, der hieß Meyn und erschlug seine vier Katzen mit dem Feuerhaken.
Es war einmal ein Uhrmacher, der hieß Laubschad und war Mitglied im Tierschutzverein.
Es war einmal ein Blechtrommler, der hieß Oskar, und sie nahmen ihm seinen Spielzeughändler.
Es war einmal ein Spielzeughändler, der hieß Markus und nahm mit sich alles Spielzeug aus dieser Welt.

Überzeugend arbeitet die Produktion mit Akustik. Zurecht wird das titelgebende Instrument damit als Verpflichtung gelesen, dem Hörsinn eine große Bedeutung für die Handlung beizumessen. Immer wieder wird die Musik in der Inszenierung wirksam zur Erzeugung von Stimmungen genutzt. Die Geburt von Oskar wird nahezu eingetrommelt, der tragische Tod seines angeblichen Vaters Matzerath, dessen Vorname Alfred von Oskar keine Beachtung erfährt, lässt sich schon vorausahnen, wenn Oskar zuvor wild auf die Bleche auf der Hinterbühne einschlägt: »Die Russen kommen!« Die Marschmusik bei der NS-Versammlung wird peu à peu von Oskars Walzertakt eingenommen. Da bleibt den SA-Mitgliedern nicht mehr viel anderes übrig als vor dem neuen heimlichen Kapellmeister zu kuschen. Und Oskars zerstörende Schreie kommen zwar vom Tonband, doch das macht das Gequietsche erst richtig unerträglich.

© Thomas Müller.
Oskar Matzerath (Benjamin Kempf) spürt die drohende Gefahr beim Einmarsch der Russen.

Wahrheit oder Lüge? Realität oder Fiktion?

Ähnlich wie in Günter Grass‘ Romanvorlage verändert sich auch in Theo Fransz‘ Produktion die Erzählstimme permanent, wenn auch weitaus weniger irritierend. Wenn Benjamin Kempf vom »Oskar« zum »Ich« wechselt, wird deutlich, dass die Distanz, aus der er erzählt, zusammenschrumpft und Oskar sich wieder mitten im Geschehen befindet. Diese Wechsel betonen auf Darstellungsebene, was sich durch mitunter zweifelhafte Handlungselemente schon ankündigt: Man kann sich nie ganz sicher sein, ob einem gerade die Wahrheit aufgetischt wird oder ob es doch sinnvoller wäre, die Geschichte nochmals kritisch zu prüfen. Auch stellt sich die Frage, inwiefern Oskar die Ereignisse in seiner Umgebung überhaupt richtig wahrnimmt.

Festzuhalten ist, dass Benjamin Kempf in seiner Rolle als Oskar definitiv weitaus weniger Ekel erregt, als es Grass‘ Romanfigur tut, die über weite Strecken Antipathie hervorruft. So berichtet Oskar in der literarischen Vorlage von seinem ersten Schultag und äußert sich über einen seiner Mitschüler: »Einem dicklichen Knaben, der mir auf meine Trommel pauken wollte, mußte ich, um nicht Glas zersingen zu müssen, mehrmals gegen das Schienbein treten, woraufhin der Bengel umfiel«.1 Anders ist dies auf der Bühne, wo Mitleid aufkommt, wenn Oskar seine Einschulung darauf fokussiert, dass er die Klasse beim Singen mit seiner Blechtrommel unterstützen möchte. Dieses Vorhaben scheitert jedoch, als seine Klassenlehrerin ihm die Trommel entreißen will.

Rot/Weiß statt Schwarz/Weiß

Seine Eltern stellen hingegen früh fest: »Oskar, ein Kreuz, das man tragen müsse« und erkennen somit schnell, dass ihr Sohn noch einiges an Aufsehen erregen wird. Oskar dagegen denkt sich viel mehr, dass Jesus am Kreuz mal seine Blechtrommel tragen sollte. Mittels seiner Stimme schafft es Benjamin Kempf, sogleich den Kirchenraum zu erschaffen, wie ihn auch in seinem sakralen Setting zu unterlaufen, indem er sein eigenes Echo mimt. Unterstützt wird dieser imaginative Akt noch durch die Projektion von Kirchenfenstern auf der Bühne. Durchweg ist der Schauspieler an diesem Abend allein auf der Bühne und schafft es dennoch mit einfachen, aber effektiven Mitteln die unterschiedlichsten Räume und Figuren zum Leben zu erwecken.

Das Bühnenbild von Bettina Weller ist dabei – wie sollte es anders sein – geprägt von Blechtrommeln. Dominiert wird es von einer überdimensionalen Blechtrommel, die scheinbar halb im Bühnenboden versinkt, und als Projektionsfläche für diverse Bilder dient. Ihr gegenüber befindet sich ein ebenso großer Stuhl, der von Benjamin Kempf immer wieder geschickt zu Treppe und Kanzel umgebaut wird. Die ungewöhnlichen Größenverhältnisse beider Objekte heben Oskars geringe Körpergröße hervor. Doch eine Blechtrommel allein reicht Oskar Matzerath nicht. Sein Verschleiß ist groß, sodass weitere kleine Blechtrommeln das Bühnenbild komplettieren. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe weiterer Utensilien, die dann und wann zum Einsatz kommen. Effektvoll ist das Ganze überwiegend in den Farben der Blechtrommel gehalten: Rot und Weiß. Ansonsten hält sich die Kulisse in gedeckten Farben.

Die Vielfältigkeit von Bühnenbild und Requisiten wird im Speziellen dann ersichtlich, wenn es um die Sexualität geht. So wird die Sitzfläche des Stuhls zu einer eigenen Bühne, auf der Oskar spielerisch mit zwei Köderfischen (Agnes und Jan Bronski) und einer Kartoffel (Matzerath) die Dreieckskonstellation seiner Eltern darstellt. Ein anderes Mal dienen seine Trommelstöcke als Maria und Matzerath, die auf den Höhepunkt hinarbeiten. Ebenso experimentell wie Oskar seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Maria erlebt, wird auch dieser Akt auf der Bühne umgesetzt. Benjamin Kempf steht an einem rollbaren Labor und mischt in Reagenzgläsern Brausepulver mit Spucke, während er davon erzählt, wie er Maria mit Brausepulver in ihrem Bauchnabel verführt. Man könnte sagen, die Chemie zwischen den beiden stimmt, oder es aber auch einfach dabei belassen, dass Oskar nicht nur rein körperlich auf der Größe eines Dreijährigen verharrt, sondern auch geistig nicht für alle Lebenssituationen bereit ist und die Welt lieber spielerisch erkundet.

Der Preis einer Dramatisierung

Viele der kleinen, aber überaus wichtigen Details des Romans – wie etwa das Lehren der Sütterlinschrift in der Schule2 – spart die Inszenierung aus. Dadurch verschenkt das Stück Potential, was bei der Darstellung der Zeitgeschichte bemerkbar wird. Diese hätte zum Teil noch tiefer gehen können, wenn man bedenkt, dass Die Blechtrommel zu den wichtigsten Werken der Nachkriegsliteratur zählt. Doch bei einer Dramatisierung eines 800-Seiten Romans sind Kürzungen unumgänglich. Zudem stellt sich die Frage, wie verständlich Oskar die Ereignisse wirklich sind und ob er seinem literarischen Vorbild eventuell hinterherhinkt, das Situationen eher durchschaut.

Ebenso wird der dritte Teil des Romans gestrichen. Diese Entscheidung traf schon 1979 Volker Schlöndorff bei seiner Oscar-prämierten Verfilmung des Romans. Schade eigentlich, denn erst da kommt Oskars wahres künstlerisches Talent zum Vorschein. Genauso entschlossen sich beide Adaptionen die Rahmenerzählung außer Acht zu lassen, in der Oskar als erwachsener Mann in einer Heil- und Pflegeanstalt sein Leben Revue passieren lässt. Allerdings würde diese Ebene auf der Bühne vermutlich zu Verwirrungen führen, sodass hier eine sinnvolle Streichung vorgenommen wurde. Trotz der inhaltlichen Kürzungen, die dieser Gattungswechsel nun mal mit sich bringt, wird die politische Situation zwischen 1924 bis zum Kriegsende deutlich.

Kurzweilig und eindringlich

Der Inszenierung von Die Blechtrommel am Deutschen Theater gelingt es, dem in die Jahre gekommenem Blech zu neuem Glanz zu verhelfen. Kurzweilig und sehr lebendig gestaltet sich dieser Theaterabend, der unsere eigene politische Lage anmahnt. Oskar Matzerath zeigt seinen Ärger, wenn er zum Zeichen des Widerstands laut wird. Ein einfaches Vorbild, das an Aktualität nicht verloren hat.

  1. Günter Grass: Die Blechtrommel. 24. Aufl. München 2017, S. 94.
  2. Günter Grass: Die Blechtrommel. 24. Aufl. München 2017, S. 103.


Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 27. September 2018
 Fotos: © Thomas Müller. Titelbild: Oskar Matzerath (Benjamin Kempf) macht seinem Unmut nicht nur mit sondern auch an seiner Blechtrommel Luft.
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