Erst 60 Jahre nach ihrem Tod in Auschwitz begann die späte Würdigung der russisch-französischen Autorin Irène Némirovsky. Teil des verschollenen Werks ist der Roman David Golder: die Geschichte eines Niedergangs, die auch dem Leser die Luft knapp werden lässt.
Von Madeline Junge
Starke Schmerzen verbunden mit einem heftigen Engegefühl, ein markantes Brennen, Übelkeit, Luftnot und zuletzt kalter Angstschweiß, der sich unmittelbar auf den Leser überträgt, den der Leser förmlich zu spüren glaubt, beschreiben den ungefähren Zustand David Golders, der sich gerade einer Herzattacke beugt.
David Golder, 68 Jahre, ein Erdölmagnat, ein Geschäftspartner, ein Ehemann und Familienvater. Eine glänzende Oberfläche, keine Ursache für Herzprobleme.
Beginnen wir also mit der Geschichte, mit dem Geschäftsmann. Sein Partner Simon Marcus gesteht, sein Vermögen bei risikobehafteten Bankgeschäften verloren zu haben. Er bittet Golder um den Verkauf seiner nahezu wertlosen Aktien, mit denen er wiederum intrigante Transfers einleiten möchte, die ihn aus seinen finanziellen Nöten verhelfen sollen. Golder ahnt den Hinterhalt, lehnt ab, Marcus begeht Selbstmord.
Golder verspürt erste Schmerzen.
Der Ehemann, einst arm, heiratete die vor Jahren ebenfalls mittellose Gloria. Mittellosigkeit bedingt Bescheidenheit, so mag vermutet werden. Bescheiden ist Gloria jedoch nur im Umgang mit ihrem Ehemann. Seine Gesundheit ist nebensächlich, der Gang seiner Geschäfte hingegen von äußerster Wichtigkeit. Sie scheint ihn völlig zu übersehen, ihn gar zu verachten, wenn er nicht mehr in der Lage ist, Millionen für ihren Schmuck auszugeben.
Golders Brust zieht sich zusammen.
Den Vater und seine Tochter, Joyce, 18, reizend schön, verbindet eine einseitige, verlorene Vaterliebe, die eben nicht erwidert, sondern nur dann vorgetäuscht wird, wenn das Taschengeld zu klein ausfällt.
Nun wird selbst dem Leser die Luft knapp.
Der Arzt diagnostiziert Angina pectoris – lebensbedrohlich. Golders Geschäfte brechen zusammen, er gibt alles auf. Seine Frau, sein Haus und zunächst auch die Tochter. Jedoch ist sie es, die ihn zu seinen Geschäften zurückführt. Angetrieben von dem Wunsch, wenigstens seine Tochter finanziell abgesichert zu wissen, reist er entgegen seiner Gesundheit nach Moskau, um den Wert seiner schlecht stehenden Aktien unter den Anstrengungen langer Sitzungen zu steigern.
Ein letzter Coup, eine letzte Gewissheit.
Die Rückreise wird angetreten, das Schiff legt ab, sein Herz hört auf zu schlagen.
Némirovskys Werk wurde, nachdem ihre Töchter den wertvollen Koffer vor den Kriegszerstörungen gerettet hatten, erst 1996 wiederentdeckt. Darunter befand sich der preisgekrönte unvollendete Roman Suite francaise, ihr wohl bekanntestes Werk. Auch David Golder hätte eine derartige Würdigung verdient, angesichts einer hervorragenden Charakterstudie, die den Leser weitestgehend erschüttert.