Impressum Disclaimer Über Litlog Links
Fluch der Semantik

Alle reden wie selbstverständlich von »den Piraten«. Aber wie weit trägt eine Analogisierung von Freibeutertum und Parteipolitik? Und was ist von einer Partei zu halten, die antritt demokratische Mandate zu erringen und sich gleichzeitig über die Ablehnung des Staatsapparats definiert? Archäologie eines Begriffs.

Ein Kommentar von Ole Petras

Vor einigen Jahren zeigte ein Cartoon im MAD Magazine einen Piraten, der »doppelt so gut« war wie seine Kameraden. Dieser Pirat besaß zwei Papageien, zwei Augenklappen, zwei Holzbeine und natürlich zwei Armprothesen. Man muss diesen Witz nicht erklären, aber man kann. Die Verstümmelung zeugt von Kämpfen, die der Freibeuter durch Mut und Tapferkeit überstanden hat. Die Anzahl der Verletzungen gibt Auskunft über seine Erfahrung. In Ergänzung zu mitunter geschönten Erzählungen (Seemannsgarn) bezeugen die Wunden das Ereignis (die Schlachten, das Leben auf See) und fungieren als sein universell verständliches, weil rein physisches Zeichen.

Dass diese Kausalkette unsicher ist, versteht sich von selbst. Eine Kombüsentür hat mitunter die gleiche Wirkung wie ein Säbel, jedenfalls in Bezug auf die mögliche Amputation der Gliedmaßen. Aber das ist – zumindest für die Lesbarkeit des Piratenkörpers – genauso egal wie der Umstand, dass die Verletzungen nur von den misslungenen Versuchen zeugen, anderen selbige zuzufügen. Gerade weil es sich um Zeichen handelt, die getrennt von ihrem Ursprung durch den Fundus des Kostümverleihs und die Bänke der Karnevalsgesellschaft geistern, kann eine eindeutig positive Bestimmung und, wie im Cartoon, die absurde Steigerung gelingen. Die benannten Codes des Piraten sind gesättigt, sie lassen sich nicht potenzieren, ohne ihren Sinn einzubüßen.

Lessons learned from Rocky I to III

Der Pirat ist das Gegenteil der Ordnung. Er fängt an, wo die immer ängstliche Kultur, das Hinausschieben der Bedeutung in ein ganz lächerliches Protokoll, aufhört. Dass die Zeichen unmittelbar und körperlich sind, hat auch damit zu tun. Der Pirat bürgt mit seiner Gesundheit für eine Sache; ihr opfert er seine leibliche Unversehrtheit. Bei aller Brutalität des Raubes, bei aller Unbarmherzigkeit und Härte – der Totenkopf ist sein Signet – erfährt der Pirat ein ganz erstaunliches Maß an Sympathie, eben weil er ohne Rückhalt kämpft, ohne Möglichkeit des Rückzugs. Und das ist die eigentliche Qualität: sich selbst einer Sache hingeben, etwas final ausfechten, nicht nur keine Gefangenen machen, sondern nicht gefangen werden – also im Zweifelsfall sterben.

Zum Autor

Ole Petras unterrichtet neuere deutsche Literatur an der Universität Kiel. In seiner Dissertation hat er sich um eine methodische Fundierung der Popmusikanalyse bemüht. Bei Litlog erscheint in loser Folge seine Pop-Kolumne LyricsSchlachthof, wenn er sich nicht gerade mit den Piraten beschäftigt.

 
 
Der hier zugrunde gelegte Begriff von Freiheit ist ersichtlich esoterisch. Wenn die Prinzipien, denen man unterworfen ist, eine gewisse Dimension erreicht haben, fühlt sich das an wie Freiheit: »Gottes Freund und aller Welt Feind« (Wahlspruch der Likedeelers), und das heißt: keine Notwendigkeit des Abwägens, kein Ermessensspielraum, immerwährender Kampf. Es sagt viel über eine Kultur aus, wenn ihre Zeichen der Freiheit allesamt Zeichen des Verlusts sind: gesprengte Ketten, verlassene Heimat, umgestoßene Statuen, eingerissene Mauern, leerer Raum, Berge von Leichen (über die barbusige Frauen tappen).

Dies alles schwappt in unseren Alltag, grundiert ihn wie ein Aberglaube. Die Verstümmelung ist als Zeichen der Freiheit längst in unser modisches Bewusstsein gelangt. Und wie beim besten aller Piraten werden die Attribute beliebig gesteigert, zeugen mehr Piercings von größerem Nonkonformismus, erzählen mehr Tätowierungen längere Geschichten, wecken immer dünnere (oder dickere oder kräftigere oder schwächere oder bleichere oder dunklere) Körper sehnliches Entzücken oder tiefe Abscheu. Das Versprechen der Unantastbarkeit gilt nie für einen selbst. Aber das Versprechen des Körpers scheint immer zu gelten.

Dabei ist wiederum kein Rückgriff auf die Ursache möglich – Säbel oder Kombüsentür? – und sind die Zeichen der Abweichung frei von ihrem archaischen Ursprung. Man muss sich selbst hingeben im Ringen um Freiheit, den Verlust dokumentieren, muss blind sein für die Sättigung der Zeichen und seine zwei Augenklappen stolz tragen, als wäre dies keine Simulation, kein absurder Komparativ, sondern echte Schlacht, immerwährender Kampf, ausgetrickster Tod. Man muss vergessen, dass die eigene Freiheit eine Feindschaft gegenüber allen Verpflichtungen ist, dass das Bekenntnis zu etwas von der Abgrenzung zu einem anderen geschluckt wird.

Es ist eine sehr allgemeine Beobachtung, dass die Selbstbezichtigung salonfähig geworden ist – Horden von Musikern, Schauspielern, Sportlern sind tätowiert, tragen Ringe mit Totenköpfen an ihren Händen, durchstechen sich Ohren, Nasen und Wangen. Und es bedarf heute keines besonderen Scharfsinns mehr zu erkennen, dass diese rebellischen Gesten ohne Inhalt auskommen: Dass nicht jeder Mensch, der sich mit Gebeinen schmückt, auch wirklich jemanden getötet hat. Dass nicht jede Tätowierung von einem Ritus zeugt. Dass mit dem Haar nicht automatisch der Abstand zum Establishment wächst. Im »Bruch der imaginären Ordnung, zu dem uns die Mode zwingt«, schreibt Jean Baudrillard, vollzieht sich eine »Zerstörung der referenziellen Vernunft in all ihren Formen.« (Agonie des Realen, 1978) Die Zeichen führen ein Eigenleben; sie tilgen die in der Praxis ohnehin häufig hinderlichen Signifikate. Auf unser Beispiel gewendet: Das Versprechen, das der Körper gibt, ist niemals einzulösen. Oder wie Mark Greif es ausdrückt: »It’s a hard thing, to try to be wild. Or, worse, to have to say you are, in ordinary words.« (The Tattoo. Fashion Supplement, 2004)

digital primates

Was ist also von einer Partei zu halten, die antritt demokratische Mandate zu erringen und sich gleichzeitig über die Ablehnung des Staatsapparats definiert? Die Piratenpartei ist der Idee nach eine Vertretung der digital natives. Sie ringt um Achtung und Einfluss eines sich in der Nutzung des Internets manifestierenden, mitunter sogar erschöpfenden Weltentwurfs. Mehr noch: Die Mitglieder und Wähler der Piratenpartei identifizieren sich mit einem und über ein Medium, das im Ruch einer Art Super-Demokratie steht, im Grunde aber nichts anderes als ein wertneutrales Transportmittel für Information ist. Die Folgen einer solchen Perspektive sind einmal niedlich: In gewissen Kreisen wird das Kürzel irl (in real life) durch das Akronym afk (away from keyboard) ersetzt, weil die virtuelle Welt für ihre Nutzer Realität ist, der zeitweilige offline-Status aber manchmal kommuniziert werden muss. Die Folgen einer solchen Perspektive sind ein anderes Mal pervers: Die Rolle, die Facebook und vergleichbare Social Networks im sogenannten arabischen Frühling gespielt haben, hat nichts mit der Freizeitbewältigung zu tun, für die diese Seiten erfunden wurden. Dennoch muss der unter Einsatz des eigenen afk-Lebens organisierte Aufstand gegen Gewaltherrscher herhalten, um die grundsätzliche Plausibilität der technologisch hoch¬gerüsteten Zeitverschwendung zu rechtfertigen. Die sich im Rückgriff auf das Zeichen des Piraten äußernde Unterwanderung demokratischer Strukturen und der Kampf für rudimentäre Grundrechte sollen Teil eines Diskurses sein?

Der ganze Zynismus dieser Debatte wird deutlich, vergleicht man die Kampagnen für die Freiheit im Netz – oder ganz konkret die Kritik an dem von Facebook sukzessive installierten Überwachungsapparat – mit der faktischen Effizienz totalitärer Systeme. Damit die beanstandeten Eingriffe in die Privatssphäre überhaupt möglich werden, müssen die Nutzer sich freiwillig registrieren. Das Akzeptieren der Spielregeln erfolgt aus dem Wunsch, bestimmte Angebote zu nutzen. Aber diese Angebote sind von den Menschenrechten sehr weit entfernt. Sie betreffen nicht die körperliche Unversehrtheit; sie betreffen nicht die freie Meinungsäußerung; sie betreffen nicht die Religionsfreiheit; sie betreffen nicht die Todesstrafe usw. Im Gegenteil speist sich die skizzierte Empörung aus der Annahme, dass die demokratischen Werte universelle Gültigkeit haben und man wie selbstverständlich auf sie zurückgreifen kann. Die Unschuld des Internets aber gilt ebenso wenig wie die Überzeugung, dass Diktaturen nicht überlebensfähig seien.

Occupy Apple?

Unabhängig vom politischen Programm der Piratenpartei ist eine gewisse Skepsis gegenüber ihrer Bezeichnung und Inszenierung angebracht. Differenzierung ist Pflicht: Es gibt Internet-Pioniere, die zum Beispiel Seiten programmiert haben, von denen Daten illegal bzw. unentgeltlich heruntergeladen werden können. Eine frühe und bekannte Seite hieß The Pirate Bay. Dazu fünf mehr oder weniger archäologische Befunde: Erstens war der Verweis auf den Piraten Eingeständnis eines Unrechtsempfindens – anders ergäbe der Name überhaupt keinen Sinn. Zweitens war die Seite nicht selbst als Pirat tätig, sondern stellte – wie auch Facebook heute – eine Infrastruktur (eine Bucht, einen Hafen) zur Verfügung. Drittens resultierte die Seite nicht aus einer kriminellen Verschwörung, sondern sie profitierte von technischem Know-How: The Pirate Bay existierte, weil sie möglich war (virtual, etymologisch: aus Kraft vorhanden). Viertens war das unterstellte Feindbild nicht die Gesellschaft (der Verbraucher), sondern die in den 1990er Jahren ganz unerträgliche Arroganz der Industrie. Fünftens wird Diebstahl erst dann zu einem substantiellen Problem, wenn nicht die Gewinne geschmälert, sondern der Handel selbst unmöglich wird. Davon war The Pirate Bay weit entfernt.

Die Piratenpartei knüpft, indem sie sich namentlich an The Pirate Bay orientiert oder eine Analogisierung zumindest in Kauf nimmt, an dieses System an, ohne die genannten Befunde selbst zu vertreten. Denn erstens kann es sich keine demokratische Partei leisten, ihre eigene Legitimität infrage zu stellen. Zweitens beschränkt sich die Partei nicht darauf, ein Hafen oder eine Anlaufstelle für Piraten zu sein, sondern tritt als Zusammenschluss ebensolcher auf. Drittens ist die Technologie fortgeschritten; die einst zahlreichen rechtsfreien Räume des Internets sind im Verschwinden begriffen und lassen sich nicht ohne Weiteres behaupten – in diesem Sinne vertritt die Piratenpartei ein konservatives Anliegen. Viertens versteht sich die Piratenpartei als Alternative zu den restlichen Parteien und das heißt zur Volksvertretung. Fünftens setzt sich die Klientel der Piratenpartei aus Leuten zusammen, die tendenziell leugnen, entweder aktiv zum Gelingen der Marktwirtschaft beizutragen oder parasitär an ihr zu partizipieren. Wenn überhaupt eine alternative Kultur angeboten wird, dann eine paradoxale: Kapitalismuskritik auf rein kapitalistischer Grundlage.

Der sympathische Nerd ist ein gegenkulturelles Phantasma, dessen Strahlkraft die asoziale Versenkung in bedeutungslose Vorstellungsreihen und Beziehungen adeln soll. In real life verfügt der Nerd über spezialisierte Kenntnisse auf einem Gebiet und über merkbare Defizite auf einem anderen. Das Gros der Internet-Nutzer aber verfügt über keinerlei spezialisierte Kenntnisse und wird einzig als Defizit sichtbar. Die Freiheit ist eine solche von Verantwortung, von der Notwendigkeit mit jemandem zu diskutieren, sich angreifbar zu machen, der verlachten Oma aufzuhelfen, die Ironiesignale zu setzen, sich etwas zu merken, etwas nicht zu wissen. Der Nerd kommt dem Piraten (im Wortsinne) nahe, weil er ohne Rückhalt kämpft, weil seine Versenkung unablässige Flucht ist, weil er, um zu überleben, seine Fähigkeiten konzentriert. Von dieser Hingabe sind die meisten seiner Lobredner weit entfernt.

Die Selbstbezeichnung als Pirat ergibt erst dann Sinn, ergänzt man eine unsichtbare Klammer. Die Piratenpartei möchte sich als Alternative zur demokratischen Kultur verstanden wissen, signalisiert aber gleichzeitig ihre Zugehörigkeit zu dieser Kultur. Es handelt sich folglich um einen Fall doppelter Devianz, die die einmal getätigte Kursänderung sofort rückgängig macht, indem sie eine zweite Abweichung hinzufügt: das Versprechen es nicht so zu meinen, im Grunde doch freiheitlich-demokratische Werte bzw. die Interessen der Bevölkerung direkt – also parlamentarisch, aber nicht parlamentär – zu vertreten. Wenn man sich, wie es gerade viele der etablierten Medien tun, fragt, was die Piratenpartei will, wäre dies keine schlechte Antwort: Eine Institutionalisierung der rein äußerlichen Abweichung, ein Tattoo auf dem Arm der Republik. – Is it so hard to say it in ordinary words?



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 10. Mai 2012
 Kategorie: Misc.
 Bild von chelle via morguefile.
 Teilen via Facebook und Twitter
 Artikel als druckbares PDF laden
 RSS oder Atom abonnieren
 Keine Kommentare
Ähnliche Artikel
  • SelbstbeobachtungenSelbstbeobachtungen Philipp Böttcher über eine Text-Sammlung zur Kulturtheorie und -wissenschaft.
  • Neue Meinungsmacher?Neue Meinungsmacher? Statements zu Literaturkritik und Buch-Bloggern von Harun Maye und Stefan Mesch.
  • Star Trek, postkolonialStar Trek, postkolonial Deep Space Nine und die Erschütterung der Star Trek-Utopie. Von Jöran Klatt.
  • Populäre KritzeleiPopuläre Kritzelei Annie Rutherfords Kritzelbericht zum Komparatistik-Workshop Pop! Pop! Pop!.
  • Buh!Buh! Ein Gespenst geht um im deutschen Literaturbetrieb. Ein Essay von Peer Trilcke.
Keine Kommentare
Kommentar schreiben

Worum geht es?
Über Litlog
Mitmachen?