In diesem Jahr wäre John Lennon siebzig Jahre alt geworden; vor genau dreißig Jahren, am 8. Dezember 1980, feuerte Mark David Chapman die tödlichen Schüsse auf das Pop-Idol ab. Eine biografische Skizze in zwei Teilen.
Von Ole Petras
[Zum Ersten Teil: Aufstieg und Fall einer Popgruppe]
Das Walroß hat das Gebäude verlassenDie das Ende der 1960er Jahre einleitende (oder eher bekräftigende) Abwicklung der Beatles ist von langwierigen Rechtsstreitigkeiten begleitet und wird von Lennon selbst als eine Befreiung moderiert. Ein in diesem Zusammenhang einschlägiger Hinweis findet sich in dem Song God vom Album John Lennon/ Plastic Ono Band (1970).1 Nach einer allgemeinen Absage an nahezu alle Formen extrinsischer Sinnstiftung (in Gestalt von Buddha, Jesus, Hitler, Kennedy, Elvis, Zimmerman/Dylan und schließlich den Beatles) heißt es dort: »I was the walrus / but now I’m John«. Anders als vermutet hat dieser ›John‹ aber jede Menge Gemeinsamkeiten mit dem Walroß. Yoko ist noch da (natürlich), George und Ringo spielen auf den ersten beiden Soloalben, Klaus Voormann und Billy Preston sind noch da, die Arbeit für den Frieden bleibt, der Mutterkomplex (vgl. die Stücke Mother und My Mummy‘s dead), der anarchische Humor (in Hold on imitiert Lennon das Krümelmonster).
Neu ist vielmehr die zuweilen erschreckende Konsequenz, mit welcher der Umbau vorangetrieben wird: Waren es zu Zeiten der Beatles Alkohol, Hasch oder LSD, die alles im Fluss hielten, ist es nun Heroin, von dem Lennon mithilfe der ›Urschreitherapie‹ Arthur Janovs loskommen möchte – ohne Zweifel die naheliegendste Lösung. Seine bei den Beatles noch abwägende Beurteilung der revolutionären Zeitströmungen mündet in eine schnell problematische Nähe zur radikalen Linken. Das Cover von Unfinished Music No.2: Life with the Lions zeigt das Paar im Krankenhaus, wo Yoko eine Fehlgeburt erlitten hatte. Diese Liste auch ästhetisch wirksamer Extreme ließe sich beliebig verlängern. Auffällig ist, dass die künstlerische Konzeption mit Rekurs auf die (in Psyche und Physis genuin körperliche) Persönlichkeit des Künstlers legitimiert wird. Der angestrebte Wechsel der personae läuft über den Nullpunkt ›Subjekt‹ und erst die Heftigkeit der Reaktion lässt erahnen, unter welchem Rechtfertigungsdruck Lennon gestanden haben muss.
Der pazifistische ›Zuckerguss‹ überdeckt gleichwohl einige der auf der Imagine-LP enthaltenen Spitzen, unter anderem gegen Paul McCartney, den Lennon in How do you sleep? wüst beschimpt (»the only thing you did was Yesterday«) und auf dessen Album Ram (1971) sich die beiliegende Foto-Postkarte bezieht. McCartney hält auf seinem Cover einen Schafbock an den Hörern; Lennon fasst die Ohren eines Schweins. Dieser aggressive Zug ist ebenso symptomatisch für ihn wie das zuweilen naiv anmutende Engagement für den Weltfrieden. Lennon arbeitet, und dies scheint mir eine wesentliche Qualität seines Werks zu bezeichnen, immer auch gegen sich und die von ihm vertretenen Anschauungen. Die mediale Figur ist so nur als Schnittmenge widerstreitender Diskurse zugänglich; eine wohlfeile Reduktion der Poetik scheitert an der schlichten Fülle der Befunde.
Das bereits ein Jahr nach Imagine erscheinenden Album Some Time in New York City (1972) fungiert aus diesem Blickwinkel als eine Art Kontrapunkt. Überwogen dort ausgefeilte Arrangements und wurden die Topic-Songs (die mit Crippled inside, It’s so hard oder Gimme some truth durchaus zu finden sind) von den gefühligen Liedern (wie Jealous guy, Oh my Love oder How) überlagert, wird hier ganz bewusst gegen die Regeln des Mainstream verstoßen. Die Qualität der Kompositionen ist bescheiden, die Live-Session mit Frank Zappa gelinde gesagt gewöhnungsbedürftig; die Lyrics behandeln tagespolitische Ereignisse (Sunday bloody Sunday, John Sinclair, Attica state, Angela) oder diffamieren allgemeine Formen der Unterdrückung (Woman is the nigger of the world). Zur statuierten Kompromisslosigkeit der künstlerischen Diktion gehört auch, dass Lennon gegen das westliche Gesellschaftsmodell hetzt, während er sich simultan um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Amerika bemüht, wohin die Lennons bereits im Spätsommer 1971 gezogen waren. Die Einwanderungsbehörde behält sich eine Entscheidung (ungerechter- und wohl auch verständlicherweise) zunächst vor.2
Aber Lennon wäre nicht ›Dr. Winston O’Boogie‹ (Selbstbezeichnung), würden die Probleme bei der Erlangung einer ›Green Card‹ nicht umgehend in Kunst übersetzt. Das 1973 erscheinende Album Mind games verkündet die Gründung des Staates Nutopia, der weder über Grenzen noch über Pässe verfügt und dessen Nationalhymne aus jenen drei Sekunden Stille besteht, die die erste Seite der Platte beschließen. Anders als bei Imagine überlagert nun die nervöse Produktion einige schöne Stücke wie One day (at a time) oder das in Teilen an Roberta Flacks Killing me softly erinnernde Intuition. Die launige Hymne Bring on the Lucie (Freda Peeple) thematisiert zwar weiterhin die Staatenzugehörigkeit, orientiert sich aber (das beweist nicht zuletzt eine im Anthology Box Set von 1998 enthaltene alternative Fassung) stark am musikalischen Geschmack der Zeit. Reggae und Disco kommen auf und Lennon entscheidet sich für einen (in üblicher Konsequenz achtzehn Monate dauernden) Besuch.
Mauern und BrückenDer benannte Zeitraum ist als ›Lost weekend‹ in den Biografien verzeichnet und umgreift eine vorübergehende Trennung von Yoko Ono. Diese ordnet ihm ganz pragmatisch eine Affäre zu; May Pang begleitet Lennon nach Los Angeles, wo er mit Harry Nilsson, Ringo Starr und Keith Moon nach eigenen Angaben seine Pubertät nachholt. Ebenso überraschend wie die Lösung von Über-Mutter Yoko ist, dass das einer derart desolaten Lage entspringende Album Walls & Bridges (1974) (nicht nur nach Meinung des Verfassers) einige der besten Lennon-Kompositionen enthält. Whatever get’s you thru the night wird zu Lennons einziger Nr. 1-Single als Solokünstler, auch das Album verkauft sich blendend.
Als Grund für diesen kreativen Output mag eine neuerliche inszenatorische Wandlung gelten. Die Abstürze mit Nilsson & Co. ermöglichen eine wenn auch nur angedeutete Reintegration der lebenden Legende in das mediale Feld der Zeit. (So lässt sich Lennon 1975 dazu herab, gemeinsam mit Paul Simon einen Grammy an Olivia Newton-John zu verleihen, der lustigerweise von Art Garfunkel entgegen genommen wird.) Die Songs auf Walls & Bridges sind nicht mehr, aber eben auch nicht weniger als brillantes Pop-Handwerk und entbehren der beispielsweise Imagine anhaftenden Subtexte. Allen voran #9 Dream, das über ein Streicherarrangement für Harry Nilssons Coverversion von Jimmy Cliffs Many rivers to cross geschrieben wurde, illustriert Lennons stupendes Gespür für Melodien und die Dramaturgie eines Popsongs.3
Die paratextuelle Einrichtung des Albums übernimmt das Prinzip eines for better or worse öffentlichen Lebens und präsentiert Lennon als offiziöses Subjekt: Ein mit einem aufwendigen Klappmechanismus versehenes Cover ermöglicht es dem Betrachter einige Kinderzeichnungen des elfjährigen John Winston zu collagieren; das von Bob Gruen fotografierte Back-Cover zeigt Lennon, der gleichzeitig verschiedene Brillen trägt, als würden diese stellvertretend für seine diversen Perspektiven auf den Popbetrieb stehen. Auf dem letzten Stück darf sogar Lennons lange vernachlässigter Sohn Julian trommeln, was die beinahe familiäre Atmosphäre vervollkommnet. Walls & Bridges wäre ein würdiger Abschluss (und ein ebenso würdiger Ertrag) der Trennung von Yoko gewesen, doch folgt auf jede Pubertät die Adoleszenz und in dieser Zeit war Lennon in Hamburg.
Die Aufnahmen zur wenig subtil Rock’n’roll (1975) betitelten Sammlung neuinterpretierter Klassiker gestalten sich schwierig. Der schon immer spleenige Produzent Phil Spector4 bedroht die anwesenden Musiker mit Handfeuerwaffen und verschwindet schließlich mit den Bändern. Erst nach zähem Ringen und einer weitgehenden Überarbeitung des Materials kann die Platte erscheinen. Aber es hilft alles nichts. Mit Ausnahme der Single-Auskopplung Stand by me bleiben die Stücke weit hinter den Originalen zurück; die intendierte Reverenz vor den musikalischen Prätexten verkommt zur nostalgischen Folklore. Die den jugendlichen Lennon in einem Hauseingang zeigende Fotografie von Astrid Kirchherr, die als visueller Titel den Bezug zur Zeit in Hamburg herstellen soll, ist mit einer schwülstigen Leuchtschrift versehen. Und als wäre dies nicht eindeutig genug, mündet das letzte Stück in ein im Stil eines Diskjockeys der 1950er Jahre vorgetragenes Statement: »Good night from the Record Plant East, New York«, sagt Lennon, »Goodbye.« Wie schon bei den Beatles führt das Projekt einer ästhetischen Rückbesinnung zur Tilgung der Chronik: Die letzte Veröffentlichung der Beatles sollte ursprünglich Get back heißen und erschien unter dem Titel Let it be.
HiatusUm den hier antizipierten Abschied vom Showbusiness zu vollziehen, bedarf es jedoch weiterer Entwicklungen. Lennon hatte mit Elton John gewettet, dass das zusammen aufgenommene Whatever get’s you thru the night auf keinen Fall Nummer eins wird, und – für ihn unverständlich – verloren. Die Wettschuld besteht in einem gemeinsamen Auftritt, der am 28. November 1974 im Madison Square Garden stattfindet. Nach dem Konzert, und das ist die eigentliche Geschichte, versöhnen sich John und Yoko. In der Folge erfüllt Lennon seinen Vertrag mit der EMI durch die Veröffentlichung einer Singles-Compilation, die den seltsamen (und für den ausgelaugten Superstar seltsam passenden) Titel Shaved fish trägt. Am 9. Oktober 1975 schließlich, Lennons 35. Geburtstag, kommt Sean zur Welt. (Elton John wird sein Pate.)
Lennon entdeckt (oder erfindet) nun eine neue Form der Selbstverortung; er wird Hausmann. Als solcher widmet er sich in den nächsten Jahren ganz der Erziehung seines Sohnes, während Yoko sich um die Verwaltung des (wie man sich denken kann beträchtlichen) Vermögens kümmert. Dieser Wechsel ist in zweierlei Hinsicht interessant: Zunächst als Erfüllung einer mit dem Janov‘schen Urschrei begonnenen ›zweiten‹ Jugend, dann als wiederum logische Folge der skizzierten Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen. Am Beginn der vorliegenden Darstellung wurde auf die Repräsentativität der Figur Lennon und ihre fortwährende Orientierung am Zeitgeist verwiesen; dieser Rückzug ins Private gehört unbedingt dazu. John ist nicht einfach weg, er ist ganz demonstrativ woanders.
Es wäre gleichwohl unsinnig abzustreiten, dass der hier dargebotene alternative Lebensstil – inklusive Doppelnamen, probiotischer Ernährung und auf Super 8 festgehaltenen Familienspaziergängen – in den meisten Fällen schwer erträglich ist. Vor der Penetranz (und Selbstgenügsamkeit) des Gutmenschentums bewahren Lennon die unleugbaren Privilegien des Plattenmillionärs und Ex-Beatle. Schon seit 1973 wohnen Yoko und die meiste Zeit auch John im exklusiven Dakota-Building am New Yorker Central Park (1 West 72nd Street; Polanski hatte hier Rosemarys Baby gedreht). Lennon verfügt über einen persönlichen Assisstenten (Frederic Seaman, der nach seinem Tod ein für Yoko wenig schmeichelhaftes Erinnerungsbuch schreiben wird) und wenn er Lust hat (und Sean im Bett ist), schreibt er Songs (u.a. für Ringo Starr) oder malt Bilder.
Dennoch belastet das selbstgewählte Exil den, wie er immer wieder beklagte, seit seinem 22. Lebensjahr unter Vertrag stehenden Künstler. Im Mai 1979 wird in der New York Times ein Love Letter From John And Yoko To People Who Ask Us What, When And Why5 veröffentlicht, in dem das Paar betont, ihre (von wem auch immer bemängelte) Abwesenheit »is a silence of love and not of indifference«. Nachdem Lennon in einer Diskothek in Hong Kong (wohin Yoko den nervösen John geschickt hatte) das von Ono hörbar inspirierte Rock Lobster der B52s hört, beschließt er selbst neue Stücke zu schreiben. Ein Segeltörn zu den Bermudas (auf dem das Schiff in einen Sturm gerät und beinahe havariert) liefert schließlich die Inspiration für die Verfertigung des neuen Materials. Auch den Titel des im November 1980 erscheinenden Albums entdeckt Lennon dort. Double Fantasy ist der Name einer Lilienart.
In bekannter Manier thematisieren die neuen Lieder das persönliche Umfeld – den Hiatus (Watching the wheels, Cleanup time), Lennons Rolle als Hausmann (Woman, Dear Yoko, Beautiful boy/Darling boy) sowie, auf übergeordneter Ebene, den beabsichtigten Wiedereintritt ins mediale Feld (Just like Starting over). Die zweite Hälfte der Kompositionen stammt – streng emanzipatorisch – von Yoko Ono. Songs wie Kiss Kiss Kiss oder I’m moving on klingen im direkten Vergleich mit heutigen Produktionen erstaunlich zeitgemäß.6 Dazu tragen der von Jack Douglas verantwortete Sound und sicherlich auch Lennons Arrangements bei, vor allem aber Onos für damalige Verhältnisse unkonventioneller Zugang zum System Pop.7 Lennon und Ono gelingt es, zwei künstlerische Konzeptionen auf Augenhöhe in einen inhaltlichen Zusammenhang zu stellen. Neben der großen Dichte an Hits ist es diese nicht nur programmatische, sondern erstmals auch ästhetisch wirksame Symbiose, welche die Platte von ihren Vorgängern abhebt.
Der Werfer im SchattenDouble Fantasy war zunächst, darauf deutet nicht zuletzt der Titel hin, als Doppelalbum geplant. Die separate Veröffentlichung – geschuldet war sie Verzögerungen im Produktionsprozess – entfaltet eine gewisse Symbolkraft, bedenkt man, dass die restlichen Stücke nach Lennons Tod und somit als anhängige Ideen erscheinen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die autonome Sphäre der Kunst einen wichtigen Bezugspunkt in Lennons Schaffen darstellt. Tatsächlich ist es die für die Popmusik charakteristische Reduktion der Fiktionalitätssignale, die Lennons Mörder Mark David Chapman zu seiner Tat motiviert. Chapmans Profil enthüllt ein bizarres Gemisch aus christlichem Fundamentalismus, Psychopathologie und Fehlinterpretationen erzählter Welten. Nachdem er die Schüsse auf sein vermeintliches Idol abgefeuert hat, setzt er sich auf den Bordstein und liest in einer eigens erworbenen Ausgabe von Salingers Fänger im Roggen. Ein doppelter Irrealis: Der selbsternannte Holden Caulfield erschießt Beatle John, zurück bleiben eine Leiche und ein Krimineller.
Leider gibt es keinen internationalen Gerichtshof, der für die Verhinderung von Kunst zuständig ist, wenn doch, wäre Chapman anzuklagen. Neben der persönlichen Tragödie8 muss der Verlust eines Spätwerks konstatiert werden. Die Beispiele Dylan, Cash, Young oder Cohen zeigen, dass es wenig Gründe gibt, die gegen eine andauernde Kreavität sprechen. Lennon selbst projektierte sein weiteres Schaffen im zitierten Playboy-Interview aus dem September 1980:
Everyone always talks about a good thing coming to an end, as if life was over. But I’ll be 40 when this interview comes out. Paul is 38. Elton John, Bob Dylan – we’re all relatively young people. The game isn’t over yet. Everyone talks in terms of the last record or the last Beatle concert – but, God willing, there are another 40 years of productivity to go.
Schließlich ist Lennons Tod hinsichtlich der Wahrnehmung des bestehenden Werks zu beklagen, eben weil das mediale Feld einer eigenen Logik unterliegt. Fast jährlich werden Biografien9 publiziert; der Markt wird mit immer neuen Box-Sets und Merchandise-Artikeln überschwemmt, doch hängen diese Produkte (wie auch der vorliegende Artikel) vom Aufhänger respektive dem kalendarischen Zufall eines Jubiläums ab. Ein close reading des (ironischerweise) durch den Tod des Autors sakrosankten Werkes unterbleibt zumeist, was besonders im Falle Lennons problematisch ist: Seine Kompositionen weisen eine enorme und für die aufgerufene Gattung untypische Komplexität auf; seine Qualitäten als Performer können kaum unterschätzt werden; seine zahlreiche Wandlungen stehen exemplarisch für die (postmoderne) Suche nach Selbstverortung – und, last not least, ist er für die letzte große Vision des Abendlandes eingetreten, den Weltfrieden.
In diesem Sinne: Merry X-mas (war is over if you want it). Amen.