Vor fünfzig Jahren nahm sich der japanische Schriftsteller Yukio Mishima das Leben. In Deutschland lange Zeit in Vergessenheit geraten, deutet eine Reihe von erstmaligen Direktübersetzungen ins Deutsche nun auf eine Renaissance dieses wortgewaltigen Erzählers hin.
Von Roman Seebeck
Es gibt Autor:innen, deren kontroverse, tragische, ja mysteriöse Todesumstände sich so tief in das kulturelle Gedächtnis gebrannt haben, dass sie auf Biografie und Werk einen Schatten werfen, der sie mitunter zu überragen scheint. Edgar Allen Poes bis heute ungeklärtes Ableben in Baltimore gehört ebenso dazu wie die Unfalltode von Albert Camus oder Ingeborg Bachmann. Wenn es um die kontroverse Rezeption von Autor:innentoden geht, scheint Yukio Mishima jedoch alle anderen zu überstrahlen. Der letzte Eindruck, den er auf der Welt hinterließ, war der bleibende – kein:e ander:e Autor:in hat die Bühne des Lebens auf derartig spektakuläre Weise verlassen.
Die Geschichte ist schnell erzählt und vermittelt auch noch heute, fünfzig Jahre später, einen absurden Eindruck: Am Vormittag des 25. November 1970 dringt Yukio Mishima, fünfundvierzigjährig und zu dieser Zeit Japans unumstrittene Schriftstellerepigone, begleitet von Anhängern einer von ihm selbst ins Leben gerufenen paramilitärischen Einheit, dem »Schilderbund« (Tate no kai), in das Hauptquartier der japanischen Selbstverteidigungstruppen in Tokio ein. Sie nehmen den General gefangen und nötigen ihn, die Truppen im Innenhof zu versammeln. Es folgt Mishimas erster und einziger Auftritt als Politiker. In eine selbstgefertigte Uniform gekleidet tritt er vor die Soldaten, fordert von einem Balkon aus die Rekonstituierung des Kaisers (Tenno) als politisches Staatsoberhaupt und die Abschaffung des 9. Artikels der japanischen Verfassung, der Japan eine vollständige Remilitarisierung und Beteiligung an bellizistischen Kampfhandlungen untersagt. Der Putschversuch endet jedoch als Farce; die jungen Soldaten beschimpfen und verhöhnen den fehlgeleiteten Autor. Dieser wendet sich ab, geht zurück ins Büro des Generals und verübt Seppuku (im Westen besser bekannt als Harakiri), jene ritualisierte Selbstmordpraxis der Samurai, bei der sich der Suizidant einen Dolch in den Bauch stößt, ehe er von einem Sekundanten enthauptet wird.
Es ist die Reduzierung auf diese politische Tat, die dazu geführt hat, dass der Autor Yukio Mishima weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Der ausgesprochen antidemokratische Gestus, der sich mit ihr verband, war westlichen wie japanischen Kritiker:innen und Wissenschaftler:innen Anlass genug, Mishima ins Schwarzbuch der japanischen Literaturgeschichte zu verbannen. Seit kurzem verdichten sich jedoch die Anzeichen einer Renaissance dieses Autors in Deutschland: Im Schweizer Verlag Kein und Aber erschienen in erstmaliger Originalübersetzung aus dem Japanischen gleich drei Romane Mishimas (Bekenntnisse einer Maske, 2018; Der Goldene Pavillon, 2019; Leben zu verkaufen, 2020) – mit der Ankündigung, weitere folgen zu lassen. Höchste Zeit also zu fragen, warum dieser Autor trotz oder gerade aufgrund seiner Kontroversität höchst lesenswert erscheint.
In keine ästhetische Schublade passendWer der Versuchung widersteht, Mishima auf sein spektakuläres Ableben zu reduzieren, entdeckt einen Autor, dessen Meisterschaft einerseits in sprachlicher Klarheit, psychologischer Präzision und minutiöser Ausgestaltung der Motive und andererseits in der Fähigkeit besteht, in unterschiedlichsten Gattungen wie Roman, Erzählung, Reisebericht, Nō-Theater oder Film zu brillieren. Mishimas antimoderner Gestus – das nonchalante Kokettieren mit Samuraitraditionen und das kritische Beäugen westlicher Einflüsse in Japan – sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Mishima Japans erster kultureller Popstar der Nachkriegszeit war, der sich wie kein Autor vor ihm im emphatischen Sinne mit westlichen Einflüssen auseinandersetzte: Er bereiste Europa und die Vereinigten Staaten, sprach Englisch, Französisch und Deutsch, betrieb Bodybuilding und modelte, schrieb Drehbücher und war ein angesehener Schauspieler. Dreimal wurde Mishima für seine kulturellen Grenzgänge für den Literaturnobelpreis nominiert, dass er ihn schließlich erhalten würde, galt vielen als gewiss.
Es ist nicht verwunderlich, dass Mishima-Rezipienten:innen sich stets bemüht haben, die von ihm so vielfältig in Szene gesetzten Dualismen, Kontraste, Dissonanzen und Divergenzen sinnstiftend aufzulösen. Doch dieser Autor entzieht sich spielerisch den erdrückenden Übergriffen von Verehrer:innen und Kritiker:innen; eine allzu schnelle Zuordnung in die herkömmlichen ästhetischen Schubladen wird ihm nicht gerecht. Dies zeigt vor allem ein Blick in seinen Schlüsselroman Bekenntnisse einer Maske.
Sehnsucht nach dem Leben der anderenBereits mit diesem großen Erstlingswerk, das 1949 in Japan erschien und 2018 erstmals ohne den Umweg über die englische Übersetzung von Nora Bierich direkt ins Deutsche übersetzt wurde, begann der Stern des damals 24-Jährigen am literarischen Firmament zu leuchten. Wie kaum ein Zweiter seiner Romane steht dieser Text symptomatisch für Mishimas gekonntes Spiel mit Autoridentität und Autonomie des Kunstwerks; die charakteristische Ambivalenz ist hier bereits motivisch angelegt.
Kochans Jugend in der frühen Shōwa-Zeit unmittelbar vor und während des 2. Weltkriegs konfrontiert ihn mit einer rigiden Gesellschaftsordnung, in der eine Erfüllung seiner sexuellen Bedürfnisse undenkbar ist. Von »Anfang bis Ende in Konventionen gefangen«, scheint der einzige Ausweg darin zu bestehen, sich mit großer Akribie eine zweite Persönlichkeit zuzulegen; Kochan beobachtet das zwischenmenschliche und sexuelle Verhalten seiner Mitschüler und konsultiert die Klassiker der Literatur, um zu verstehen, »wie Menschen meines Alters ihr Leben empfanden und wie sie miteinander sprachen«.
MaskenspieleDas Leitmotiv des Romans ist die Metapher der Maske, die Kochans Prozess der gesellschaftlichen Anpassung umschreibt. Die Leser:innen werden Zeug:innen eines Parforceritts der »ständigen Inszenierung« moderner Maskulinität. Ob in der Schule, beim Militär oder in der Begegnung mit Frauen: Kochan bemüht sich um ein an soldatischen Maßstäben ausgerichtetes heteronormatives Männlichkeitsideal, das jedoch stets durch Selbstzweifel und in ihm auflodernde Begierden konterkariert wird.
Durch jede Zeile dieser Prosa dringt die klare Einsicht, dass der ›Held‹ dieser Zeit nicht mehr der patriotische Soldat als reinkarnierter Samurai ist, sondern das fragile Subjekt, das sich unter den überkommenen gesellschaftlichen Schablonen leidend windet. Während Kochan sich mühsam die Überzeugung abringt, dass ein heroischer Tod auf dem Schlachtfeld ein erstrebenswertes Lebensziel sei, entlarvt sein innerer Lebenstrieb die ihn fesselnden gesellschaftlichen Ideale als Phantome eines dekadenten Zeitalters. Natürlich scheitert Kochans Strategie: Unausweichlich drängt sich ihm auf, dass er nicht seine Umwelt, sondern sich selbst getäuscht hat, dass seine Mimesis des Lebens der anderen ihn nie zu diesem Leben führen wird, sondern die verhasste Differenz lediglich perpetuiert.
Die Kontradiktion des modernen SubjektsWer in die Prosa Yukio Mishimas eintaucht, entdeckt auf ihrem Grund weder affektierte Intellektualität noch antimodernen Patriotismus, sondern die fundamentale Einsamkeit menschlicher Existenz. So verbirgt sich hinter Mishimas Darstellung der gesellschaftlichen Negierung Kochans auch eine radikale Affirmation der Vielfalt dieses zersplitterten Subjekts. Indem Mishima Kochans Pendeln zwischen Außenseitertum und Integration, Krankheit und Gesundheit, sexueller Perversion und emotionaler Hingabe, Todessehnsucht und Lebenswille, kurzum dionysischem Rausch und apollinischer Strenge darstellt, kritisiert er jene gesellschaftlichen Mechanismen, die das menschliche Subjekt in seiner Komplexität zu beschneiden gedenken. Kochans Scheitern, diese Widersprüche in eine einheitliche Form zu gießen, ist das Programm des Romans. Dabei ist das Besondere, dass die Figur selbst – konträr zum zeitgenössischen Diskurs – ihre Kontradiktion nicht als ausschließlich als Mangel wahrnimmt, sondern zu verstehen versucht.
Kochans monologische Ergründung seiner persönlichen Disposition wird daher durch verschiedene intertextuelle Stimmen, literarische und wissenschaftliche Klassiker von Oscar Wilde über Sigmund Freud bis Magnus Hirschfeld, durchbrochen. So scheint es auch nicht verwunderlich zu sein, dass eine der vielen intertextuellen Stimmen, die Kochan bei seiner literarischen Ergründung der Homosexualität vernimmt, jene von Walt Whitman ist, hat dieser doch wie kein zweiter die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz poetisiert. Seine berühmten Verse in Song of Myself – »Do I contradict myself? / Very well then I contradict myself, / (I am large, I contain multitudes)« – lesen sich wie die Signatur des Romans. Was durch die Form der Shishōsetsu als individuelle, spezifisch-biographische Konstellation getarnt wird, entpuppt sich als universeller literarischer Erfahrungsraum. Kochans kritische Subjektergründung ist keine spezifisch japanische Tragödie, sondern eine anthropologische Erfahrung.
Hieraus ließe sich auch eine Formel zur Bewertung Yukio Mishimas als Autor destillieren. Statt eine konfrontative Auflösung der Dualismen und Dissoziationen zu betreiben, sollte man eher für eine Bejahung seiner Kontradiktion und Komplexität votieren. So gesehen ist das Besondere an Mishimas Selbstmord gerade nicht, dass sich hinter ihm ein politischer oder ästhetischer Sinn verbirgt, sondern dass er alle Formen der kausalen Auflösung ad absurdum führt. Solange wir versuchen, Mishima mit ästhetischen, soziologischen oder politischen Begriffen als Dandy, als Samurai, als Nationalisten, oder als kulturellen Vermittler einzufangen, wird er sich uns stets entziehen.