September 2011: Aléa Torik, Schriftstellerin und Doktorandin der Literaturwissenschaft, sitzt im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum, der Zentralbibliothek der Berliner Humboldt-Universität (»in the Grimms«), und schreibt die erste Seite ihres zweiten Romans Aléas Ich. So beginnt die Entstehungsgeschichte des Romans. Oder beginnt so der Roman selbst? Oder beides?
Von Christian Dinger
Aléa Torik wurde 1983 in einem kleinen Dorf in Rumänien geboren. Mittlerweile lebt sie in Berlin, promoviert an der HU über Fiktionalität und wohnt im Prenzlauer Berg zusammen mit der bildschönen, aber tieftraurigen und teilnahmslosen Olga. Selbstverständlich ist Aléa ebenso fiktiv wie ihre Freunde und ihre Romanfiguren, aber das scheint sie weiter nicht zu stören und es hindert sie auch nicht daran, am laufenden Band selber etwas zu erfinden oder Begegnungen mit real existierenden Personen zu haben. Am Anfang des Romans sitzt Aléa in der Sprechstunde ihres Doktorvaters Joseph Vogl, um mit ihm das erste Kapitel ihres Romans zu besprechen, in dem Aléa in der Sprechstunde ihres Doktorvaters Joseph Vogl sitzt und Vogl ihr einen Vortrag über den Wandel des Wirklichkeitsbegriffs hält. Beim Lesen des Romans fühlt man sich manchmal so als stünde man zwischen zwei Spiegeln. Es bilden sich verschiedene Fiktionsstufen, die sich abwechseln, ineinander übergehen oder sich überlappen. Da fällt es einem manchmal schwer mitzukommen. Aber, wie Aléa ihrer Freundin Luise erzählt, die sich von dem Konzept ihres Romans überfordert zeigt:
»Mitkommen ist keine adäquate Rezeptionshaltung modernen Texten gegenüber. Mitkommen musste man bei den klassischen Texten. Modernen Texten gegenüber verhält man sich anders: Man läuft voraus oder man humpelt hinterher.«
Doch nicht nur die Arbeit an ihrem Roman beschäftigt Aléa. Sie ist einsam. Allen Männern in ihrem Leben ereilt das gleiche Schicksal: Sie stürzen mit dem Flugzeug ab. Und zu allem Überfluss wird Aléa auch noch verfolgt: von zwei geheimnisvollen Gestalten namens Jana und Janus. Sind es Agenten der Securitate, denen niemand gesagt hat, dass Ceaușescu längst tot ist? Sind es Personifizierungen von Kindheitserinnerungen oder den Lasten des Erwachsenwerdens? Oder sind es doch nur die Einbildungen einer einsamen jungen Frau mit einer blühenden Phantasie? Verfolgt wird sie aber auch von einem Mann im roten Pullover (Aléa hasst rote Pullover), der an dem Tag ihrer Geburt aus Aléas Heimatdorf wegzog und nun wieder auftaucht, um einen Roman über sie zu schreiben, der mit Aléas Roman identisch zu sein scheint.
In ihrer Kindheit musste Aléa zwei entscheidende Traumata durchleben. Ihr Vater las ihr damals Krieg und Frieden und Anna Karenina von Lew Tolstoi vor. Das erste Trauma war, als sie erfuhr, dass Tolstoi tot ist. Sie hielt ihren Nachbarn für Tolstoi und weinte, weil sie dachte, er sei eben gerade erst gestorben. Das zweite Trauma war, als sie erfuhr, dass Tolstoi sich alles, was in seinen Büchern steht, nur ausgedacht hat, was Aléa unendlich wütend machte. Das war aber auch der Moment, in dem in Aléa die Erkenntnis heranreifte, welche Gestaltungsmöglichkeiten ihr Sprache und Dichtung eröffnen. Wer also enttäuscht ist von der Tatsache, dass Aléas Ich in »Wirklichkeit« nicht von einer jungen Frau Ende zwanzig geschrieben wurde, sondern von einem männlichen Mittvierziger, muss nicht beunruhigt sein. Er durchläuft nur einen ganz natürlichen Reifeprozess.
Man möchte abschließend gerne sagen, Aléa Torik habe einen rundum gelungenen Roman geschrieben. Und das sollte man auch tun und sich nicht weiter daran stören, dass es diese Aléa Torik gar nicht gibt. Tolstoi gibt es schließlich auch nicht mehr.
Nicht die fiktionale Autorin und die Literatur oder die beiden Romane an sich sind das Problem in diesem Fall, sondern die anmaßende und täuschende Absicht des betriebenen Weblogs. Nicht eingeweihte Kommentatoren und Kommentatorinnen wurden gelinde gesagt am Nasenring durch die Veranstaltung gezogen. Der empirische, tatsächliche Autor hatte in dieser Hinsicht nicht die geringsten Skrupel. Es ging und geht ihm lediglich um die eigene Anerkennung als großer Schriftsteller und um jeden Preis wahrgenommen zu werden. Kritik ist und war im Weblog höchst unwillkommen und wurde und wird gelöscht, schließlich musste letztlich immer die Chimäre des fiktionalen Autorinnenbildes abgesichert und an der Erhöhung und Größe des eigenen gearbeitet werden. Tröstlich ist letztlich, dass nicht nur Leser und Kommentatoren, sondern auch der Autor selbst in seinem weiblichen Alter Ego gefangen zu bleiben scheint. Der aleatorische Effekt spielt sich über diese Problematik hinaus gerade in “Aléas Ich” auch oft in einer nerv tötend, naiv witzigen Sprache und einer philosophischen Absurdität ab, die jegliches Postulat im nächsten Satz sofort wieder unterlaufen muss. Der Autor sollte lernen, seine Leser weder vorsätzlich zu täuschen, noch ständig zu unterschätzen. Irgendwann möchte man mit Sartre sagen dürfen, “les jeux sont faits”.
Tolstoi gibt es, ich hab mir gerade Anne Karenina gekauft.
Nur mal so als Gedankenexperiment: Wie verhielte es sich denn, wenn wir in einer Welt lebten, in der nur die Texte junger Frauen, alter Männer oder bekannter Schauspieler von den Verlagen veröffentlicht würden? Wäre es dann legitim, sich eine “fiktive” Identität zuzulegen?
Wenn der Verleger eines großen Verlagshauses sich eine gefakte Krimi-Autorenidentität zulegt und mit den ihm zu Verfügung stehenden Möglichkeiten (Lobhudeleien bekannter Kritiker und Autoren) einen dramatisch schlecht geschriebenen Krimi in die Bestsellerlisten hypen lässt – dann ärgert und empört mich das sehr. Aber wenn ein Autor mit den absurden “Marktbedingungen” spielt und dieses Spiel sogar noch in einem sinnvollen und engen Bezug zum “Inhalt” seines Schreibens stehen – dann empfinde ich das als hübsches und offenbar gut gelungenes Schelmenstück …
[…] Ein sehr informativer Artikel von Christian Dinger über die Hintergründe von “Aléas Ich” findet sich hier: http://www.litlog.de/ichfiktionen/ […]