Was wird aus dem altehrwürdigen Feuilleton, wenn jedermann das Zeug zum Top-Rezensenten bei Amazon.de hat? Den Anfang der Reihe Literaturverteiler. Orte, Medien, Akteure im literarischen Leben bildete eine interessante Diskussionsrunde über die Entwicklung der Literaturvermittlung im Kontext des Medienwandels.
Von Marleen Scharninghausen
Es versprach ein anregender Abend zu werden: Zur Podiumsdiskussion im Literarischen Zentrum Göttingen versammelten sich gleich drei Vertreter aus dem Literaturbetrieb, um über die Chancen und Entwicklungen der Literaturvermittlung im Internet zu debattieren. Zunächst der Mitbegründer des Literaturportals perlentaucher.de, Thierry Chervel, bekannt für seinen Hang zur Polemik, der als »Lobbyist für das offene Netz« vorgestellt wurde. Einen bekennenden Anhänger der neuen Medien stellt auch der Computerphilologe Fotis Jannidis dar, der sich als Professor in Würzburg dem Problemfeld der digitalen Edition widmet.
Angesichts dieser beiden Konkurrenten hatte es die Literaturkritikerin Kristina Maidt-Zinke schwer, bezeichnete sie sich selbst doch als »Fossil«, was die Nutzung des Internets als Plattform für Literaturvermittlung betreffe. Durch den Abend führte Litlog-Mitbegründer Peer Trilcke, der die Gäste zunächst aufforderte, ihre Positionen darzulegen, um anschließend in die Diskussion überzugehen. Den Anfang machte Fotis Jannidis: seine »vier unaufgeregten Thesen« über die Entwicklung der Literatur in Zeiten des Internets, fassten den Problemhorizont kurz zusammen.
Die Literatur bleibt – Das Buch gehtJannidis erklärte, dass sich die Literatur bereits in der Vergangenheit gegenüber neuen Medien, wie etwa dem Fernsehen, immer wieder behaupten musste und sich als durchaus widerstandsfähig erwies. Heute ließe sich dennoch beobachten, dass die Literaturvermittlung in Sonderinteressen aufgespalten würde: immer weitere Portale kämen hinzu, die sich über einen speziellen literarischen Themenbereich austauschen würden. Die Zeiten für professionelle Literaturkritiker würden dadurch immer schlechter werden, denn auch ihr Gegenstand, die Hochliteratur, verliere im Zuge dieser Entwicklung an Bedeutung. Eine letzte »optimistische« These führte Jannidis abschließend ins Feld: die Literatur wird sicher nicht verschwinden, nur das Format »Buch« könnte in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören…
Thierry Chervel konnte in seinem Beitrag den meisten Thesen Jannidis’ zustimmen und wies darauf hin, dass der Begriff, den wir von Literatur haben, immer auch an die Formen gebunden ist, in denen sie existiert. Heute würden sich jedoch zusehends bekannte Formen »verflüssigen«. Dies beklagte Chervel jedoch nicht, sondern wies ganz im Gegenteil darauf hin, dass durch die Vermittlungsform des Internets ungleich mehr Potential vorhanden sei.
Vor solch einer Zukunftsprognose erschrickt die Kritikerin Maidt-Zinke beinahe. Nachdem sie sich offen zu ihrem »rückwärtsgewandten Bild« bekennt, erklärt sie, dass Literaturkritik in ihren Augen zum »Bereitstellen von ästhetischen Maßstäben« verantwortlich sei. In einer Zeit, in der der altehrwürdige Print-Journalismus der Vergangenheit angehören soll, sieht sie diese Maßstäbe jedoch massiv gefährdet.
Perlentaucher Herausgeber Chervel sieht Schwarz für die Zukunft des Buches.
Immer wenn es um das Thema Literaturvermittlung im Netz geht, ist der Rückgriff auf das Beispiel Amazon.de nicht weit, personifiziert das Verkaufsportal doch die so oft geschmähte »Laienkritik«. Auf die Frage, ob sich angesichts dieser Art von Rezensionen die traditionelle Literaturkritik auflösen wird, verspricht die Diskussion für kurze Zeit an Fahrt zuzunehmen. Ist Literaturkritik im Netz lediglich eine Kaufempfehlung, die mit einer Egalisierung von Käufer und Kritiker einhergeht? Chervel gibt zu bedenken, dass die Amazon-Kritiker für das besprochene Buch, im Gegensatz zum professionellen Kritiker, selbst zahlen müssen. Aus diesem Umstand würde sich zwangsläufig ergeben, dass sie andere Kunden eben vom Kauf abraten oder zum Kauf ermuntern würden.
Auf diese »neue Form der Literaturkritik« war Maidt-Zinke scheinbar überhaupt nicht gut zu sprechen. Auf die bloße Entscheidung zwischen Kaufen und Nicht-Kaufen käme es in der traditionellen Literaturkritik überhaupt nicht an. Statt den Gewinn an vorhandenen Informationen über ein Buch zu begrüßen, fühlte sich Maidt-Zinke geradezu »bedroht von dieser regelrechten Daten-Flut«, die einem überhaupt keine Zeit mehr lassen würde, sich im stillen Kämmerlein in aller Ruhe der »wahren« Literatur zu widmen. Wer braucht schon Internet, wenn er ein gutes Buch zum Lesen hat?
Das Literaturportal als VerkaufsempfehlungIst das Internet also eine rein ökonomische Maschinerie, die den Wert für das Wesentliche gänzlich verloren hat? Chervel kann dieser Einschätzung widersprechen und erinnert uns daran, dass man von Inhalten im Netz nicht leben kann. Im Gegensatz zum Feuilleton würde es bei der Buchbesprechung im Netz auch viel weniger darauf ankommen, ein Buch als erster zu besprechen und somit derjenige zu sein, der die richtungweisende Meinung vertritt, an der sich alle messen müssen.
Trat die Kritikerin Maidt-Zinke in ihrem vorherigen Beitrag als wahrer Feind der neuen Medien auf, vor denen es sich zu schützen gilt, räumt sie nun ein, das Internet überhaupt nicht richtig ernst zu nehmen. Ein Amazon-Toprezensent hätte einen Großteil seiner Bewertung aus einem ihrer Artikel abgeschrieben. Ein Vergehen, was in ihren Augen überhaupt keine Bedeutung hatte. Nostalgisch wähnt sie sich in die 90er Jahre zurück, in denen die Literaturkritik noch hohes Ansehen genoss. Ironischerweise ist dies jedoch abermals einem neuen medialen Format zu verdanken, nämlich dem Literarischen Quartett des Starkritikers Marcel Reich-Ranicki, das das ZDF bis 2001 ausstrahlte.
Ungleiches Trio: Thierry Chervel, Literaturkritikerin Kristina Maidt-Zinke und der Computerphilologe Fotis Jannidis (v.l.).
Den hohen Status von einst haben jedoch nicht nur die Literaturkritiker verloren. Chervel führt an, dass auch der Autor selbst längst nicht mehr das Ansehen genießt, wie es beispielsweise bei Hans Magnus Enzensberger oder Thomas Mann der Fall war. Ein möglicher Grund für den Statusverlust des Autors liegt vielleicht in der scheinbaren Demokratisierung im Netz. Jannidis, übrigens Experte in Sachen Autorschaft, gibt hier zu bedenken, dass Informationen, die in Form von Bildern vermittelt werden, einfacher vom Leser aufgenommen werden können. Durch die Möglichkeit, zum Beispiel über Autoren-Websites Kontakt mit dem Autor aufzunehmen, würde dem Leser die »Illusion von Nähe« suggeriert.
Mit der Frage, was die Philosophie des perlentauchers von anderen Web-Angeboten unterscheiden würde, neigt sich die Diskussion bereits dem Ende zu. Thierry Chervel zieht ein beinahe versöhnliches Fazit, indem er erklärt, dass perlentaucher eine Art Brücke zwischen der traditionellen Öffentlichkeit (=Zeitung) und den neuen Medien (=Internet) schlagen möchte. Wie beispielsweise der Plagiatsskandal um den Debütroman der Autorin Helene Hegemann zeige, können die beiden Instanzen auch durch kritische Bezugnahme fruchtbare Ergebnisse produzieren.
Wer mit der Hoffnung auf eine kontroverse und energiegeladene Debatte ins Zentrum gekommen war, musste leider enttäuscht nach Hause gehen. Die Duellanten erwiesen sich als äußerst gut erzogen: sie nahmen aufeinander Rücksicht, pflichteten dem anderen bei und räumten sogar Fehler ein. Das gemäßigte Diskussionsklima der Redner übertrug sich offensichtlich auch auf das Publikum: Es wurden nur wenige Fragen gestellt, deren Beantwortung jedoch auch keine Streitlust unter den Rednern wecken konnte. Ein berechtigter Einwand aus dem Publikum, dass in der Diskussion einige Begriffe, wie etwa »Literatur«, »Literaturvermittlung«, »Bildung« und »Wissen« bunt durcheinander geworfen wurden, war ebenfalls nicht ganz von der Hand zu weisen.
Einige neue Einblicke in das weite Feld der Literaturvermittlung in Zeiten des Web 2.0 konnte der Abend jedoch trotzdem bieten, denn wann hat man schon die Möglichkeit, einem Computerphilologen, einem Netz-Lobbyisten und einem »Kritiker-Fossil« auf einmal zu begegnen?