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Irritationsmanagement

Seit Mai dieses Jahres befindet sich das Literarische Zentrum in Göttingen unter der Leitung von Anja Johannsen, die zuvor nicht nur im Literaturhaus Zürich arbeitete, sondern auch an der HU Berlin und der Universität Paderborn Literaturwissenschaft lehrte. Ihre doppelte Ausrichtung erlaubt es ihr, die Gefilde des Universitäts- und Literaturbetriebes gleichermaßen zu vermessen, Schnittstellen und Kooperationsmöglichkeiten aufzuzeigen. Mit Litlog spricht Anja Johannsen über die Vorteile des Zweigleisigfahrens, über Autonomie und ihren Wunsch, zu irritieren.

Wiebke Schuldt: Bevor Du die Leitung des Zentrums in Göttingen übernommen hast, warst Du sowohl an den Universitäten Paderborn und Berlin als auch am Literaturhaus in Zürich tätig. Inwiefern haben sich die beiden Bereiche Literaturwissenschaft und Literaturvermittlung gegenseitig beeinflusst bzw. befruchtet?

Anja Johannsen: Ich habe lange versucht, zweigleisig zu fahren und die beiden Bereiche miteinander in Verbindung zu bringen. In meinem Habilprojekt, das ich jetzt erstmal zur Seite gelegt habe, ging es um literarische Institutionen. Anhand des Deutschen Buchpreises, von Schreibinstituten und Literaturhäusern wollte ich untersuchen, inwiefern deren Etablierung das Feld der Gegenwartsliteratur auf der Textebene verändert hat. Dabei hat es mir natürlich geholfen, dass ich Literaturhäuser und dadurch auch viele der anderen Institutionen des Literaturbetriebs von innen kannte. Andersherum war es so, dass ich im Literaturhaus Zürich zum Beispiel eine kleine Veranstaltungsreihe organisiert habe, die sich »Der Literaturbetrieb unter der Lupe« nannte. Da habe ich Podiumsdiskussionen organisiert, die den ›Normallesern‹ die Gelegenheit geben sollten, hinter die Kulissen zu gucken. Dazu wurde auch immer jemand von der wissenschaftlichen Seite eingeladen, der ein kleines Referat gehalten hat. Bei der Organisation dieser Veranstaltungsreihe hat es mir wiederum geholfen, dass ich im akademischen Kontext viel über den Betrieb gelesen hatte.

W.S.: Was antwortest Du, wenn man Dich nach Deinem Beruf fragt?

A.J.: (zögert) Ich würde auf jeden Fall ungern sagen, ich bin Kulturmanagerin, aber vielleicht wäre das die ehrlichste Antwort. Wenn ich gefragt werde, dann sage ich immer, ich leite das Literarische Zentrum in Göttingen, das ist ein Literaturhaus, und dann wird natürlich nachgefragt, was ich da genau mache. Wenn ich dann sage, ich organisiere Veranstaltungen, dann hätte ich eigentlich gleich sagen können, das ist Kulturmanagement.

Bio

Anja Johannsen ist 1974 geboren, wurde 2007 mit einer Arbeit über den möglichen Nutzen der Raumtheorie für literarische Analysen promoviert. Sie hat für in- und ausländische Verlage übersetzt und lektoriert, unterrichtet seit 2004 an Universitäten in Berlin und Paderborn und arbeitet seit 2007 frei und vertretungsweise für das Literaturhaus Zürich. Anja Johannsen hat zum 1. Mai 2010 ihre Arbeit im Literarischen Zentrum begonnen.

 
 

W.S.: Willst Du das Zentrum unter Deiner Leitung verändern oder andere Schwerpunkte setzen?

A.J.: Die wichtige Frage. Im Göttinger Tageblatt wurde mir ja vorgeworfen, dass ich zu sehr auf Kontinuität setze. Das tue ich aber schon bewusst. Ich finde, zum einen hat das was mit Respekt dem Vorgänger gegenüber zu tun, sich nicht hinzustellen und zu sagen, ab jetzt läuft hier alles anders. Zum anderen habe ich mich ja hierher beworben, weil ich das Programm sehr gut finde und das Profil des Hauses mag. Von daher wäre es nicht sehr konsequent, wenn ich jetzt alles komplett anders machen würde. Deshalb hab ich jetzt erstmal vor allem auf Kontinuität gesetzt. Der Wandel kommt dann sowieso, das geht ja gar nicht anders, als dass man so einem Haus sein Gepräge gibt.

Ein zukünftiger Schwerpunkt werden Veranstaltungen sein, die wie meine Zürcher Reihe »Der Literaturbetrieb unter der Lupe« eine Art Metablick auf den Betrieb werfen, das war hier aber ja gewissermaßen schon durch die Verleger-Reihe vorbereitet. Im jetzigen Programm bildet die Veranstaltung zum  Briefwechsel zwischen Unseld und Bernhard eine Art Auftakt zu dieser Reihe, deren Veranstaltungen dann nicht unbedingt die Form der Lesung haben werden, sondern eher Diskussionsformat. Was ich in diesem Programm jetzt komplett neu mache, ist diese Reihe »Literatur und Wissenschaft«, die mit Oswald Egger im Januar beginnt. Da wird immer ein Autor, der sich in seinem literarischen Schreiben mit (natur)wissenschaftlichen Themen auseinandersetzt, mit jemandem zusammensitzen, der aus der entsprechenden Wissenschaft kommt. Es ist auffällig, dass sich die Gegenwartsliteratur häufig klassisch naturwissenschaftlicher Themen annimmt, da wollen wir Ursachenforschung betreiben.

W.S.: Theoretisch bist Du als Programmgestalterin ja völlig autonom. Ist es manchmal schwierig, diese Autonomie zu behaupten und kein Marketinginstrument der Verlage zu werden? Müssen manchmal ›große‹ Autoren eingeladen werden, um die Zuschauerzahlen zu sichern und um sich unbekannte Autoren überhaupt leisten zu können?

A.J.: (lacht) Ich bin ja ans Zentrum geraten, weil ich im Februar zu dieser Tagung vom Promotionskolleg »Wertung und Kanon« eingeladen war, und da habe ich über die heikle Situation von Literaturhäusern in Wertungs- und Kanonisierungsprozessen gesprochen und sehr betont auf diese Gefahr, die Du genannt hast, hingewiesen. Deshalb muss ich jetzt immer grinsen, wenn ich – völlig zu Recht! – diese Sache gefragt werde. Aber gerade weil das Zentrum ja kein so veranstaltungsreiches Haus ist, bleibt Zeit für eine intensive Programmarbeit, das heißt, ich muss nicht vor lauter Druck alles Mögliche präsentieren, was gerade gehypt wird, sondern kann tatsächlich autonom mein Programm gestalten. Und die Verlage nötigen einem ja ohnehin nicht wirklich irgendwas auf.

Und zu den ›großen‹ Autoren: Es ist natürlich wichtig, dass man so eine Art von Mischkalkulation macht. Aber das fällt mir nicht besonders schwer, weil ich es ohnehin von der Idee her richtig finde, dass man den Leuten auch mal jemanden präsentiert, den sie immer schon mal sehen wollten. Ich glaube nicht, dass es funktionieren würde, ein Programm ausschließlich mit Namen zu machen, die man noch gar nicht kennt. Die Leute, gerade auch diejenigen, die sich nicht professionell mit Literatur befassen, müssen erstmal auf das Haus aufmerksam gemacht werden, indem man ihnen Namen bietet, die sie kennen. Und dann kann man sagen: Und übrigens, hier gibt es noch Nora Gomringer und Martín Kohan.

W.S.: Auf der Homepage des Netzwerks der Literaturhäuser heißt es: »Literaturhäuser spiegeln nicht nur aktuelle Strömungen, sondern geben selbst weitreichende kulturelle Impulse an den Kulturbetrieb und die Öffentlichkeit weiter.« Worin siehst Du die Aufgabe des Zentrums? Nach welchen Kriterien wählst Du Autoren aus und stellst das Programm zusammen?

A.J.: Erstmal finde ich gut an dem Zitat, dass da kulturelle Impulse erwähnt werden und damit relativ offen gelassen wird, was das genau für Impulse sind. Das Zentrum ist ja kein Literaturhaus im klassischen Sinne, sondern eher ein „begehbares Feuilleton“, wie Hauke Hückstädt es genannt hat. Und daran halte ich auch fest. Gerade die Freiheit, nicht nur Autoren einzuladen, gibt auch Raum, Impulse zu setzen.  Wenn ich z.B. Sineb El Masrar, die Herausgeberin der Gazelle, einlade, und wir im Rahmen von »Literatur macht Schule« mit ihr in die Gesamtschule gehen, setze ich vielleicht einen stärkeren Impuls als mit einer klassischen Lesung. Es wär mir so insgesamt sehr zuwider, wenn ich das Gefühl hätte, ich biete den Leuten Unterhaltung auf hohem Niveau, ohne dass etwas Aufstörendes dabei wäre.

Bei der Auswahl der Gäste der eher ›klassischen‹ Literaturveranstaltung sehe ich mir natürlich die Verlagsvorschauen durch, aber meistens ist es dann doch so, dass ich letztlich Leute einlade, deren Arbeit ich über Jahre hinweg beobachtet habe. Norbert Gstrein zum Beispiel hätte ich auch ohne seinen letzten Roman unbedingt hier haben wollen, weil er einer von den Gegenwartsautoren ist, die ich schon lange schätze, und von denen ich finde, dass sie nicht bekannt genug sind. Ebenso würde ich Iris Hanika all meinen Freunden empfehlen, und ich habe nicht annähernd so viele Freunde, wie ich Iris Hanika Leser wünsche. Dann achte ich darauf, dass sich alles einigermaßen gut verteilt, dass nicht nur Prosa vorgestellt wird, zu viel Lyrik geht aber auch nicht, dass auch internationale Autoren kommen usw. Das sind dann eben die ganz pragmatischen Überlegungen, die so ein Programm natürlich auch mit gestalten.

W.S.: Über die Lesung herrscht in der Öffentlichkeit nicht immer die beste Meinung. Thomas Wegmann beschrieb einmal polemisch zwei Prototypen von Lesungen: Die ›klassische‹ Lesung, bei der der Autor mit einem Glas Wasser und bebender Stimme seine Texte deklamiert, verglich er in mit dem Gottesdienst, und das neuere Phänomen der Literaturfestivals, bei denen Lesungen zum ›Event‹ werden, mit dem Rummelplatz. Worin liegt Deiner Meinung nach der Wert der Lesung?

A.J.: Im Programm haben wir Artaud zitiert, der darüber klagt, dass die Literatur kulturgeschichtlich in die stille Kammer verbannt wurde, und fordert, dass sie wieder sinnlich erfahrbar werden muss. Man muss nicht mit ihm übereinstimmen, aber an dem Grundgedanken, dass man durchaus auch noch etwas anderes über den Text erfährt, wenn man die Stimme des Autors hat und mit dem Autor reden kann, ist ja was dran. Außerdem steht eine Lesung ja nicht in Konkurrenz zum stillen Lesen, das eine soll ja möglichst das andere bedingen. Wenn ich entscheiden müsste, nur noch Lesung oder nur noch alleine zuhause lesen, dann würd ich mich natürlich auch immer für die stille Kammer entscheiden. Man sollte auch nicht überschätzen, was eine Lesung kann. Aber als Ergänzung zum stillen Lesen kann sie, glaube ich, doch viel.

W.S.: Worauf kommt es bei einer guten Lesung an?

A.J.: Bei einer moderierten Lesung hängt sehr viel von der Moderation ab, noch wichtiger ist aber die Grundatmosphäre. Und da finde ich die Bedingungen im Zentrum wirklich sehr gut. Allein schon dadurch, dass sich das Podium auf einer Ebene mit den Zuschauern befindet, hat man nicht dieses Gefälle. Die Gefahr, dass das Ganze zu steif wird und gar nichts passiert, ist hier also schon räumlich etwas gebannt. Eine konzentrierte, aber auf keinen Fall zu steife Atmosphäre ist da sehr günstig. Wie gesagt, finde ich es wichtig, dass das Ganze irgendwie irritiert. Man kann natürlich gern auch einfach zufrieden nach Hause gehen, aber am schönsten wär, man wär ein bisschen zum Nachdenken angeregt worden, und das Leben sähe nicht mehr ganz genauso aus wie vorher.

W.S.: Wie weit würdest Du mit Deinen Irritationen gehen? Würdest Du Thilo Sarrazin ins Zentrum einladen?

A.J.: Nein! Auf gar keinen Fall. Bei jemandem wie ihm, würde ich sagen: je weniger Aufmerksamkeit, desto besser. Dem würde ich gar keine Fläche bieten. Ich möchte irritieren, aber nicht um jeden Preis!



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 25. September 2010
 Das große Bild stammt aus dem Archiv der New York Public Library (via flickr). Das Porträt wurde uns von Anja Johannsen überlassen.
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