US-Autor David Vann spricht im Literarischen Zentrum Göttingen mit Alexander Starre über seinen blutjungen wie blutrünstigen Roman Goat Mountain, dem Christian Brückner seine unverwechselbare Stimme schenkt – ein Abend, der in die Abgründe des Menschseins führt.
Von Madita Oeming
Passend zum Saisonauftakt geht es im Literarischen Zentrum international weiter: Zu Besuch kommt der amerikanische Autor David Vann. »Unser heutiger Gast passt eigentlich sehr gut hier zu uns in die Düstere Straße«, sagt Gesa Husemann bei ihrer Begrüßung. Denn der 1966 in Alaska geborene Vann ist bekannt für seine finsteren Romane, in denen am Ende immer jemand stirbt. Heute hat er sein jüngstes Werk Goat Mountain mitgebracht, über dessen Entstehungsprozess er mit Berliner Amerikanist Alexander Starre spricht. Aus der gerade erst erschienenen von Miriam Mandelkow übersetzten deutschen Fassung liest Schauspieler und Synchronsprecher Christian Brückner, der sonst keinem Geringeren als Robert de Niro seine Stimme leiht.
Am Anfang war der MordAls Brückner aufsteht, um den Romanbeginn zu lesen, fragt man sich, wie ein so großer Mann sich so gut in der ersten Reihe verstecken konnte. Trotz aller Bühnenerfahrung scheint ihm die Aufmerksamkeit hier fast unangenehm, versucht er den Applaus mit einer Geste abzubrechen. Mit den Händen in den Taschen seiner Jeans liest er die ersten Worte. Im stumm lauschenden Publikum entweicht jemandem ein leises »krass!« gefolgt von Schmunzeln der Ringsumsitzenden, die wissen, was gemeint ist. Man muss erst einmal de Niro aus dem Kopf bekommen und aufhören, über diese merkwürdig vertraute, unglaublich spezielle und angenehme Stimme nachzudenken, bevor man sich auf das konzentrieren kann, was sie sagt.
Auf die sich hier besonders aufdrängende Frage hin, wie viel David Vann denn in dem namenlosen Erzähler stecke, antwortet er mit jener brutalen Ehrlichkeit, die ihn auszeichnet: »Jedes Jahr waren wir dort, jedes Jahr ließ mich mein Vater durch sein Gewehr einen Wilderer beobachten und jedes Jahr ging mir der Gedanke durch den Kopf, abzudrücken«. Im Buch tut er es nun; erliegt dem Trieb. Wie Kain, der uns daran erinnere, dass wir Menschen niemals ganz vom Tiersein »aufwachen« würden, heißt es im Roman. »In uns ist etwas, das töten möchte«, sagt Vann überzeugt. »Sonst gäbe es kein Gebot, das es uns verbietet«.
Eine Klassische TragödieIm Gespräch betont Vann wiederholt, dass er mit Goat Mountain im Grunde eine griechische Tragödie geschrieben habe. In einem begrenzten Setting und mit nur wenigen Figuren drehe sich alles darum, welche Regeln noch gelten, wenn ein Tabu erst einmal gebrochen ist. Das müssen sich nicht nur die Leser, sondern auch die Figuren des Romans nach dem ersten tödlichen Schuss fragen. Worauf kann man sich jetzt noch verlassen? Jedes Käsemesser wird zur potentiellen Mordwaffe, jedes eben noch vertraute Familienmitglied zur möglichen Bedrohung.
Der Mord bringt alles durcheinander und die vorher scheinbar in Stein gemeißelten Kategorien ‚richtig‘ und ‚falsch‘ geraten ins Wanken. So auch die Sicht auf die zur Routine gewordene, nie in Frage gestellte Jagd. In der zweiten Passage, die Brückner liest, erlegt der junge Erzähler seinen ersten Hirsch. Zwischen dem Knarren des Dielenbodens und dem Knirschen von Brückners Lederjacke lauschen wir einem weiteren Mord. Kopfschütteln im Publikum. Die Betroffenheit scheint jetzt größer als an der Stelle, an der ein Mensch starb.
Genau wie bei dem Protagonisten. Dieses Mal kämpft sein Opfer und will und will nicht sterben, muss er mit den eigenen Händen töten, blickt ihm in die Augen, riecht seine Angst, empfindet Mitleid. Erneut, nur umgekehrt, zeigt sich die von uns wie von den Charakteren so selbstverständlich gezogene Grenze zwischen Mensch und Tier in all ihrer Willkürlichkeit. Was unterscheidet uns überhaupt? Und wiegt irgendein Leben mehr als ein anderes?
Freud schrieb mitEinen Plan hatte Vann beim Schreiben von Goat Mountain nicht. »Ich habe erst auf den letzten 50 Seiten angefangen, mein Buch zu verstehen«, gesteht er. Er habe die Charaktere geschaffen und laufen lassen; nie geahnt, dass sie auf einmal zur Dreifaltigkeit werden würden. »Unser Unterbewusstsein hat noch viel mehr Muster als das Bewusstsein« erklärt er und deutet damit die wohl wichtigste treibende Kraft seines Schreibprozesses an: seine Vergangenheit. Mit einer Familiengeschichte, die, wie er offen berichtet, einen Mord und fünf Selbstmorde zu ihren Kapiteln zählt, weiß Vann um die Wucht des Unbewussten.
»Das soll jetzt hier aber keine Therapiestunde werden«, sagt er mit seinem einnehmenden Lächeln, das die Vergangenheit nicht überspielt, sondern wirklich überwunden zu haben scheint. Da das, was er zu verdrängen versuchte, sich immer seinen Weg zu ihm zurück bahnte, ist er irgendwann auf Konfrontationskurs gegangen. Literarisch stellte er sich seinen inneren Gegnern und mit Goat Mountain ist er am Ziel seiner Vergangenheitsbewältigung angelangt. Im Nachwort nennt er den Roman ein Feuer, das das Letzte von dem wegbrennt, was ihn zum Schreiben brachte. Er hat sich frei geschrieben – das sagt er und man glaubt es ihm. Er wirkt glücklich.
Moby Dick im WaldGoat Mountain als ein Buch über die Hirschjagd zu bezeichnen ist wie Moby Dick ein Buch über die Waljagd zu nennen – es wird dem nicht gerecht. Denn wie bei Melville steckt auch bei Vann das Essentielle weniger in dem, was passiert, sondern in dem, was gedacht, gefühlt, gesagt oder verschwiegen wird. Zur Nemesis wird bei Vann statt des großen weißen Wals das Tier in uns, genauer: die unergründlichen und unbezwingbaren Triebe, gegen die unsere Moral Tag für Tag ankämpfen muss. Der Roman ist nicht nur brutal, sondern vor allem philosophisch. Wer ihn liest, ohne auch nur einmal innezuhalten und nachzudenken, hat nicht richtig gelesen.
»Amerikaner mögen keine Tragödien« bemerkt Vann, der tatsächlich in Europa deutlich mehr Leser als in seiner Heimat findet. Vielleicht liegt es genau daran, denn Tragödien zwingen einen, die Grenzen des eigenen Moralverständnisses zu erforschen. Das hat etwas Beängstigendes. Doch wer sich dem stellt, wird sehen: auch etwas Befreiendes. So geht man an diesem Abend mit dem beflügelnden Gefühl nach Hause, etwas über sich selbst gelernt zu haben – wenn auch mit dem bitteren Beigeschmack einer Wahrheit auf der Zunge, die wir uns ungern eingestehen. Eine augenöffnende Begegnung.