»13 Lieder. Lektüren und Analysen populärer Songs«, unter diesem Motto steht eine öffentliche Ringvorlesung, die im Wintersemester 14/15 jeden Montag um 18 Uhr im ZHG 006 (Platz der Göttinger Sieben 5) stattfindet. Litlog sprach mit dem Mitorganisator der Reihe Gerhard Kaiser.
Das Interview führte Elisabeth Böker
Literaturwissenschaftler, die sich mit Liedern und Songs beschäftigen. Wie ist das bitte zu erklären?
Dass sich die Literaturwissenschaft mit Liedern beschäftigt, ist weniger erklärungsbedürftig, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Seit seinen Anfängen – denken Sie etwa an die romantischen Ursprünge gerade auch der Göttinger Germanistik (Stichwort: die Gebrüder Grimm) – hat sich das Fach für das, was es für »Volkskunst« hielt, interessiert und somit immer schon auch für die vermeintlich oder tatsächlich authentischen Lieder aus dem Volk. Der Begriff Volkslied klingt natürlich heute ein wenig antiquiert; wenn man darunter aber ganz wertfrei solche populären Lieder und Songs versteht, die von allen oder zumindest sehr vielen gekannt und/oder (nach)gesungen werden, dann ist man ganz schnell auch bei solchen Songs, wie sie in unserer Vortragsreihe zur Debatte stehen.
Und schließlich ist es einfach auch die Neugier, die meinen Kollegen Kai Sina und mich umtreibt, die Neugier, einmal zu schauen, wie weit man mit literaturwissenschaftlichen Mitteln bei der Analyse eines Gegenstandsbereiches kommen kann, der ja seiner Erscheinungsform nach – das heißt in seiner Kombination aus textlichen, musikalischen und performativen Elementen – weit über das bloß Literarische hinausgeht. Da gibt es sicherlich Grenzen, aber bis diese ausgelotet sind, kann durchaus – dies ist zumindest unsere Hoffnung – erst einmal so etwas wie eine »fröhliche Wissenschaft« betrieben werden. In dieser Hinsicht sind wir der Goethe’schen Devise gefolgt, derzufolge der Handelnde »immer gewissenlos« ist und haben es einfach einmal gewagt.
Warum haben Sie sich dafür entschieden gerade Popmusik in einer Ringvorlesung aufzulegen?
Das hat gegenwartsanalytische, aber auch historische Gründe. Die Vortagsreihe beschäftigt sich zwar nicht ausschließlich mit Popmusik (vertreten sind ja zum Beispiel auch das romantische Kunstlied, ein Chanson sowie ein Song aus der Dreigroschenoper), aber – das ist richtig – doch vorrangig. Das liegt schlicht in der Logik der historischen Entwicklung des populären Liedes. Zumindest tendenziell dominiert und formt ja vor allem die Popmusik seit ungefähr mehr als einem halben Jahrhundert – sagen wir: seit Elvis, mit dem deshalb unsere Reihe ja auch beginnt – in unserem Kulturkreis die Produktions-, Rezeptions- und Distributionsweisen der Populärkultur und darüber hinaus. Dem sollte, das finden zumindest wir, eine Literaturwissenschaft Rechnung tragen, wenn sie auch eine Wissenschaft sein will, die zur gegenwärtigen Kultur lebender Menschen etwas zu sagen haben will. Hinzu kommt noch, dass auch der Pop mittlerweile – mit seinen knapp 60 Jahren – in jene Jahre gekommen ist, in denen er sich selbst historisch wird. Einige der wichtigsten Mitinitiatoren der Popgeschichte sind tot, die Archive werden geöffnet, die wichtigen Alben in gleichsam historisch-kritischen Neuausgaben wieder aufgelegt: Damit schlägt dann aber auch die Stunde einer historischen Wissenschaft und ihrem Interesse, sich mit dieser ersten Phase der Geschichte einer künstlerischen Ausdrucksweise zu beschäftigen, die vielleicht wie keine zweite das Alltagsleben des letzten halben Jahrhunderts geprägt hat.
In Ihrem Beitrag, der am 17. November zu hören sein wird, werden Sie »Heroin« von Velvet Underground erklingen lassen. Der erstmals 1967 gespielte Song wurde vom Magazin Mental Floss zu einem von zehn Liedern, die die Welt veränderten, gewählt. Zu Recht? Was ist das reizvolle an dem Song?
Freilich ist »Heroin«, den Lou Reed übrigens schon in seiner College-Zeit 1964 geschrieben hat, ein bedeutender und auf seine ganz spezifische Weise großartiger Song. Die Unterstellung aber, dass ein Song die Welt verändert haben könne, scheint mir etwas überzogen und fügt sich insofern ganz nahtlos in den Rahmen der ebenso notorischen wie notwendigen Selbstüberschätzung der Künste generell. Kurzum: Die Welt hat »Heroin« von The Velvet Underground gewiss – sei’s zum Bösen, sei‘s zum Guten – nicht verändert, aber die Popmusik ist unter anderem durch diesen und nach diesem Song doch eine andere, und hat zumindest das Spektrum ihrer Ausdrucksmöglichkeiten nachhaltig und unwiderruflich erweitert. Die Vorstellungen davon, was ein Song (textlich, musikalisch, performativ) überhaupt sein kann und darf, wie er zu klingen habe, sind danach einfach nicht mehr dieselben. Nicht, dass von da an in jedem Song von Drogenerfahrungen die Rede gewesen wäre, oder dass man nur noch mit ins Kakophonische abdrifteten Bratschen musiziert hätte. Aber: Der Song zeigt, dass man genau das tun kann, dass dergleichen im Rahmen eines Popsongs möglich ist. Diese Erweiterung der Popgrammatik, die sich seit etwa 1965 beobachten lässt, geht freilich nicht nur von den Velvet Underground aus, aber gerade an »Heroin« lässt sich beispielhaft beobachten, wie die damals ja noch recht junge Popmusik einen selbstbewussten (das heißt hier: mutigen und zugleich reflektierten) Sprung in ihre eigene Moderne macht. Reizvoll ist zudem – das kann ich hier nur anreißen, weil ich nicht zu viel verraten will -, dass allein schon das Zustandekommen des Songs (wie dann auch seine spätere Kanonisierung) auf extrem unwahrscheinlichen Ausgangsbedingungen beruht. Betrachtet man genauer, wie der Song zustande kam, wer ihn aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen eingespielt hat, dann ist man heute überrascht, dass es ihn überhaupt gibt.
In den Vorlesungen soll es nicht nur um eine Textanalyse gehen, sondern das Zusammenspiel von Liedtexten und musikalischer Umsetzung wird aufgezeigt. Was verraten Sie uns bereits vorab, was bei Ihrem Song besonders auffällig ist?
Besonders auffällig an »Heroin« ist vor allem dreierlei: Der Text handelt – übrigens in einer Weise, die durchaus ambivalenter ist, als es der Titel nahelegt – von Dingen, die zuvor in einer solchen unbemäntelten Ausdrücklichkeit in einem popsong nicht zum Thema wurden. Sein eigentlich verstörendes Potential erhält der Song aber erst mit seiner musikalischen Umsetzung: Die Art und Weise, in der Maureen Tucker ihr Schlagzeug spielt, vor allem aber John Cales von der experimentellen Avantgarde (von der aus er seinen unwahrscheinlichen Weg zur Kooperation mit Lou Reed fand) inspirierter Einsatz der Bratsche waren und sind absolut untypisch für popmusikalische Standards. Zudem ist das Album, in dessen Kontext der Song erscheint, auch verpackungsgeschichtlich ein bemerkenswerter Meilenstein der Popgeschichte. Als Stichwort mag hier »die Banane des Bösen« reichen.