Marie Wolf erzählt zweimal die gleiche Geschichte – aber eigentlich erzählt sie zwei verschiedene Geschichten – nein, eigentlich erzählt sie von der Möglichkeit vieler Geschichten in einer einzigen. Was soll denn das?
Von Anna-Lena Heckel
Die Handlung ist schnell erzählt: Der Wal der Wahrheit wird von einem Sheriff gefangen gehalten. Edward, ein Kind aus dem Dorf des Sheriffs, klaut diesem den Schlüssel, entdeckt den gefangenen Wal im verbotenen Wald und befreit ihn. Man könnte sich fragen, wie ein übergroßer Zahn den Weg in die Geschichte findet, warum der Sheriff aussieht wie ein Neonazi mit Kommunistenstern oder was es mit dem Wal der Wahrheit überhaupt auf sich hat und weshalb er fliegen kann. Es geht hier aber nicht bloß um das Was; von mindestens gleicher Bedeutung ist das Wie. Wie wird erzählt, dargestellt, gelesen, gesehen, verstanden? Edward erscheint einmal als gemeiner Dieb und das andere Mal als mutiger und zugleich freundlicher Junge – bei genau demselben Tathergang.
Good Edward, bad EdwardMarie Wolfs Graphic Novel irritiert. Ihr Buch besteht aus zwei Heften, das linke weiß, das rechte schwarz, beide betitelt mit Die Wahrheit. Die beiden Teile enthalten denselben Text, aber sich voneinander unterscheidende Illustrationen. Blättert man durch den einen oder den anderen Teil, kann man Seiten der beiden Hefte übereinanderlegen und so werden die Wahrheiten verschränkt, vertauscht oder vermischt.
Doch was Marie Wolf zwischen den Erzählungen über die Wahrheit schreibt, stimmt nicht ganz mit dem überein, was sie tut. Sind nicht die verschiedenen Wahrheiten selbst vollwertig, also weit mehr als bloße »Nuance«? Sind alle Wahrheiten, die zwischen Schwarz und Weiß entstehen, wirklich nur »Grautöne«? Und wenn sie von der einen Wahrheit als Utopie schreibt, muss da nicht mit Pathos entgegnet werden: Eine Wahrheit wollen wir nicht; wir wollen tausende!
Denn gerade mit der Gegenüberstellung von den Erzählungen und Illustrationen vom rowdyhaften und vom heldenhaften Edward zeigt sie, wie viele unterschiedliche Lesarten durch die Kombination von Text und Bild eröffnet werden können. Erst in der Verschränkung von beidem, von Sehen und Lesen, erzeugt der Text seine Wahrheit/-en. »Nichts ist wahr – oder alles ist wahr«. Hier wird die Radikalität ihrer Poetik deutlich; eine Radikalität, die der angeblichen Objektivität ihre Herrschaft entzieht.
Die Bilder stehen für sich selbstWolfs Wahrheit erscheint äußerst kunstvoll, denn die Illustrationen sind liebevoll gestaltet und ausdrucksstark, obwohl oder gerade weil sie sich weniger Farben bedient. Sie arbeitet bewusst mit verschiedenen Perspektiven, was gerade durch den Vergleich der nebeneinanderstehenden Szenerien ins Auge fällt. Dass dem Abgebildeten eine große Bedeutung zukommt, wird einmal mehr deutlich in der Materialfrage, in der die Illustratorin sich von der Vorherrschaft der Digitalisierung abgrenzt: Die Köpfe der Figuren wurden auf altem Papier, zum Teil aus DDR-Büchern, gezeichnet und nachkoloriert. Und in der Tat ist zu erkennen, dass die Gesichter nicht nur im Arbeitsprozess, sondern auch im Ergebnis eine besondere Rolle spielen, denn sie sind mit ihrer Mimik maßgeblich für die Stimmung, die die Bilder vermitteln, mitverantwortlich.
Doch dienen die Abbildungen nicht einfach der Illustration des Geschriebenen. Häufig entziehen sie sich einer klaren Deutung und verweisen auf das, was zunächst nicht als naheliegend erscheint. Die Zusammensetzung von Bild und Text zeigt, dass ein Text nicht eindeutig auf ein bestimmtes Bild verweist: Die Grafiken erzählen eigene Geschichten und füllen den Text mit Leben.
Die Wahrheit richtet sich an alle, die Lust an Phantastischem, Philosophischem, Wahrem und Unwahrem haben; es beschränkt sich nicht auf sogenannte Erwachsene: Der Blick bei der Lektüre wandert von den Zeichen der Buchstaben zu den Linien des Bildes und wieder zurück. Wie beeinflussen Bilder unser Textverständnis? Was bedeutet das für unser Verständnis der »Wahrheit«? Wolf entlarvt, wie leicht wir als Leser*innen zu steuern sind. Was das soll? Die Wahrheit macht Spaß und hinterfragt die Norm einer gesetzten Wahrheit, möge dieses Erlebnis vielen zuteilwerden.